Dieser Essay ist ursprünglich in delirium N°09 erschienen. Online gibt es auch eine passende Playliste.
«Ich möchte Literatur lesen, die zu mir spricht», hat Dominik Holzer in N°07 geschrieben und angemerkt: «Fast hätte ich geschrieben: Literatur, die mich berührt. Cédric hätte mir dann aber in der Ausgabe N°08 eine reingehauen und gesagt: ‹Dieses Dichberühren ist doch genau so ein konstruiertes Gefühl, gegen das man vorgehen muss. Welcher Buchstabe berührt dich denn wo genau, lieber Dominik? Das A in der Seele? Das Ü an der Leber?›»[1]
Und es stimmt, ich lehne die Formulierung ab, nicht aber, weil ich nie berührt worden wäre, sondern weil es so schwierig zu kommunizieren ist, dass die Rede vom Berührtwerden oft gerade als Ersatz für eine Verständigung untereinander gilt. Wer sagt, er sei berührt worden, muss damit nichts mehr sagen und pocht auf die Unsagbarkeit, als wäre das Pochen nicht auch eine Form von Sprache. Es mag sein, dass uns oft etwas berührt, was uns sprachlos macht, aber es ist eben nicht umgekehrt. Wir sollten nicht die Sprache verlernen, mit der Absicht, mehr berührt zu werden. Wir müssen über die Kerzchen im Orkan reden.
Ich will also erzählen, was mich wirklich berührt oder, wie du, Dominik, es vorsichtiger fomuliert hast, was zu mir spricht. Aber das ist leider nicht Literatur. Literatur spricht nicht zu mir. Zumindest hat sie es lange nicht getan, und es hat einige Zeit gebraucht, bis ich Herrndorfs Sand entdeckt habe und bis János Moser seine zunehmend abgedrehteren Texte geschrieben hat – Zeit genug, in der ich der Faszination einer Musik begegnete, die alles ausser Musik sein wollte und die mich heftig dort packte, wo es einem Teenie aus der Agglo empfindlich weh tat. Schmerz und Sehnsucht gehören zu dieser Musik ebenso wie Einsamkeit und übersteigerte Effekthascherei, sie hat den Gegenstand für ein altes Label erst erfunden: das Pathos. Die Berührung mit ihr ist schmerzhaft, ansteckend und chronisch wie eine Krankheit.
Und es gibt nunmal keine Möglichkeit auf Pathos zu verzichten, wenn man auf den Steinen hinter der Kläranlage steht, das stinkende Wasser um die kaputten Sneakers kriecht und in der Nähe sich die Schaltung eines Fahrrads durch die Kopfhörer in die Ohren schraubt, und man ist vierzehn, viel zu alt für all das, und plötzlich fünf-, sechsundzwanzig und unendlich jung darüber zu schreiben.
I
Post-rock means bands that use guitars but in nonrock ways, as timbre and texture rather than riff and powerchord.[2]
Die Erzählung von Postrock müsste mit dem Jahr 1991 beginnen. Genauer mit dem 27. März, als «Spiderland» erscheint, jenes schrammlige Stück Dreck von Album, das einen flüsternden Geschichtenerzähler unter schrägen Riffs verschüttete – das letzte Album von Slint, einer Teenagerband aus Louisville, die nie auf Tour ging und sich trennte, bevor es erschien. Oder mit dem Coverfoto, das sie zur Legende machte. Sie müsste damit beginnen, weil fast alle Erzählungen vom Postrock dort beginnen,[3] und sie müsste damit beginnen, weil ich im Jahr 1991 geboren wurde – weil es diesmal leider nur um mich gehen kann, wenn ich von Postrock rede: von meiner Krankheit, und weil ich diese Krankheitsgeschichte erzählen will; sie ist aber auch jene von meinem Literaturgeschmack, die ein Symptom ist.
Aber wenn die Erzählung nicht 1991 beginnt, weil das düstere Schattengeflecht von «Spiderland» bei allem, was dafür spricht, doch noch kein Postrock ist, sondern sich in einer bis heute einzigartigen Schwebe zwischen Postpunk und Drone bewegt, unter die, eben in Flüsterstimme, Geschichten von opaker Einsamkeit eingesprochen sind («Don stepped outside. He decided to piss, but he couldn´t»), wenn sie also nicht 1991 beginnt, weil es noch keinen Postrock gibt, so müsste sie 1994 beginnen. In jenem Jahr, als Bark Psychosis «Hex» veröffentlichen und der Musikjournalist Simon Reynolds in einer Rezension die Bezeichnung Postrock entwickelt.[4] In jenem Jahr, als im düsteren Schottland die Gründer von Mogwai zum ersten Mal die Köpfe zusammenstecken und ein zusammengewürfeltes Pack langhaariger, barfüssiger Musiker als Vorband auf eine Bühne in Montreal gestellt wird. Eine Band, von der niemand so genau weiss, wer sie eigentlich sind und wie viele, und die später als Godspeed! You Black Emperor, Godspeed You Black Emperor! oder Godspeed You! Black Emperor (GY!BE) bekannt werden, je nachdem, zu welchem Namen sie gerade wieder gewechselt haben würden – diese Band, die den libidinösen Kern des Postrock ausmacht.
Dann hätte man die soziologischen Ingredienzen von Postrock, ohne auch schon irgendetwas über die Musik zu sagen, vielleicht beisammen: Ominöse Gründungsmythen aus fernem Norden, Untergründiges, intellektuelle Selbstbezeichnungen und ganz viel Prätention.
Was aber die wirkliche Musik betrifft, dürfte Postrock 1997 begonnen haben, als das erste Studioalbum von GY!BE erschien und den Grundstein für das kanadische Label Constellation Records legte, das seither für den Postrock etwa das war, was Kathrin Passig für die zeitgenössische deutsche Literatur ist, und sie alle traten zugleich auf den Plan: «Mogwai Fear Satan», Mogwais erstes Album, Rachel´s wurden zu Peels legendären BBC-Sessions eingeladen und mit Sigur Rós debütierte auch, und das ist vielleicht das Wichtigste, eine erste grundsätzlich mittelmässige Postrock-Band, die von vielen weiteren gefolgt werden würde. Schliesslich ist der Begriff eines Genres erst dann wirklich stark, wenn er seine Ausformung ins Schlechte und Mittelmässige zulässt.
Die Wahrheit aber ist, dass die Erzählung von Postrock nie begonnen hat. Das ist kein historiografisches oder gattungstechnisches Problem, sondern ein strukturelles Merkmal dieser Musik. Postrock ist ahistorisch: Was im Jahr 2012 erschienen ist, klingt nicht neuer oder anders als das vom Jahr 1997. Aber, um ehrlich zu sein, es hätte auch in den 80ern oder in den Sixties oder, weil die Instrumentierung so entfremdet ist, in einem anderen Jahrhundert eingespielt worden sein können.
Das klingt erstmal, als füge sich Postrock einfach in die «Retromania»[5] der Gegenwart und seine Zeitlosigkeit sei ein nostalgisches Phänomen, das sich wie die 80er-Synthies und die Reverb Drums der neuen Popmusik an einer früheren Modeströmung orientiert. Aber die Zeitlosigkeit von Postrock spielt auf kein klassisches Davor an, sondern auf ein Immerschon. Er begehrt nicht nostalgisch, was vergangen ist, sondern stilisiert das Auseinanderklaffen von Begehren und Ausderweltgefallensein jeder Zeit und Epoche (immer schon), auch der kommenden. In seinem Aufbau, der klingt wie die Entdeckung der Musik überhaupt: sukzessives Hinzufügen von Instrumenten zu meditativen, schliesslich konvulsiven Strukturen – so stellt man sich vor, dass Steinzeitmenschen Musik gemacht haben, so müsste Musik immer funktionieren –, simuliert er jedesmal aufs Neue (und immer schon) die Genese schlechthin. Die ständige und schwere Geburt einer Musik aus Haut.
II
The more ‹post› a post-rock band gets, the more it abandons the verse-chorus-verse structure in favor of the soundscape. A band’s journey through rock to post-rock usually involves a trajectory from narrative lyrics to stream-of-conciousness to purely instrumental music.
Postrock transzendiert Rock, indem er dessen Instrumente und Abläufe aufnimmt, sie aber strukturell verzerrt, dehnt und auseinanderbricht, so dass er höchstens noch als dessen Verweigerung bezeichnet werden kann.[6] Ein durchschnittliches Lied dauert eine Viertelstunde, zielt – komplex oder plump – auf eine Klimax, für deren Aufbau es nötig ist, leise, fast in der Stille versickernde Melodien zu haben.[7] Gesungen wird nicht, und wenn, bildet die Stimme nur ein geringes Instrument unter vielen – E-Gitarre, Bass, Schlagzeug, häufig auch: Geige, Cello, Xylophon, und: Trompeten, Posaunen, Waldhörner. Postrock klingt wie Filmmusik, nur dass von ihm das Pathos destilliert und weiter veredelt wird, bis zum masochistischen Fetisch oder zum Kitsch.[8]
Sein Gewicht, sein Tempo und seine Höhepunkte nimmt er mit Anlauf – das ist der Trick des Postrock. Die Vorbereitung: jam-artige Läufe, die aus dem Dunkeln kommen und sich in Geschwindigkeit, Lautstärke und Instrumentierung mit fast unmerklicher Langsamkeit verstärken, erzeugen jenes Ziehen im Bauch, in Lenden und Beinen, das ständig vorwärts preschen will und seine Erfüllung idealerweise nicht ganz findet – vielleicht, vielleicht auch nicht, bei der Klimax. Das erklärt die Aggression, wenn ihr das Zimmer eures Kinds nach zehn Minuten eines Songs betretet, um ihm eine Frage zu stellen. Sein Geschrei ist nicht Pubertät aber doch ein Schmerz im Bauch, der genauso peinlich ist und ein bisschen mehr weh tut.
III
Above all, post-rock abandons the notion of rebellion as we know and love it, in favor of less spectacular strategies of subversion – ones closer to psychic landscapes of exile and utopia constructed in dub reggae, HipHop and rave. At the heart of rock’n’roll stands the body of the white teenage boy, middle finger erect and sneer playing across his lips. At the center of post-rock floats a phantasmatic un-body, androgynous and racially indeterminate: half ghost, half machine.
Postrock war für den vierzehnjährigen Jungen – kurz nach der Jahrtausendwende, in einem Elternhaus voll berstender Bücherregale, von denen er nie etwas gelesen hat, aber die das Schlagzeug von The Coma Lilies dämpften, das sich in die Stille tätowierte – die Begegnung mit etwas Unlebendigem, das ihn mehr berührte als jedes menschliche und lebendige Gefühl. Bücher vermitteln Geschichten, üben sich im Lebendigmachen, im Erzählen von persönlichen Schicksalen. Postrock hingegen verlegt sich auf die Sehnsucht, die das eigene Schicksal vom Anderen abtrennt und synthetisiert sie zu etwas Totalem: Die Vorstellung, mehr zu sein und mehr zu wollen, als einem das Leben, die Gene oder der Kapitalismus gegeben haben, so naiv sie auch sein mag, fasst er als das Eigentliche auf – und sie ist schön und schrecklich, rührend und gross. Doch das Gefühl des Grösseren wird durch das Posthumane erkauft: Postrock zu hören bedeutet, auf jeden Rockstar zu verzichten, den man anhimmeln könnte. Es bedeutet, den Aufstand und die artikulierte Präsenz der Stimme, die Geschichten erzählt, durch die Stimmung, die die Potenz möglicher Geschichten verspricht, auszutauschen. Postrock, in seiner kompletten Absage ans Authentische und der Überhöhung der Sehnsucht, ist Kitsch, Pathos und übt sich in prätentiösen Posen – man kann ihm all das vorwerfen –, aber sein ästhetischer Modus ist ahistorisch und posthuman. Und daraus ergibt sich eine wunderbare Möglichkeit.
IV
In the process, there’s a dismantling of trad rock’s dramatic mechanisms such as «identification» and «catharsis.» Instead the listener is plunged into plateau-states of bliss, awe, uncanny-ness, or prolonged sensations of propulsion, ascension, free fall, immersion.
Postrock darf nicht mit Ambient oder Progrock verwechselt werden. Ambient (wie Drone) legt einen Klangteppich aus, eine Soundscape, deren Struktur und Rhythmus unterzugehen haben, indem sie die Hörerin in einen Kokon hüllen. Postrock ist im Grunde das genaue Gegenteil davon – er stanzt in die Fläche einen Takt. Rhythmus ist das, was die grossflächigen Texturen und Plateaus perforiert: Er will aus seiner Soundscape ausbrechen. Trotz seiner Ruhe ist richtig guter Postrock daher immer Mathrock, also jene rhythmisch komplex überlagerte, von Bass oder Schlagzeug dominierte Musik, die ständig – wie die permanent überhängende Bass Drum im 5/4-Intro von LITEs «The Sun Sank» – aus ihrem Takt ausbrechen will.
Von Progrock unterscheidet ihn etwas, was man am besten als Haltung oder Disposition bezeichnen könnte, denn sie sind sich in vielen Merkmalen ähnlich. Progressive Rock überschreitet ebenfalls die herkömmlichen Strukturen des Rock, fügt sie neu zusammen, steigert und verzerrt sie, allerdings macht er das rasch, ohne viel Atem zu holen und mit einer distanzierten Haltung. Er baut grossartige Riffs, die er in wenigen Sekunden wieder in einer Welle aus neuen Einfällen untergehen lässt, hetzt die Musik durch seine Wogen und Täler aus Zitaten und setzt vor allem nicht den rhythmischen und langfristigen Aufbau, sondern den instrumentalen, kurzfristigen in den Vordergrund.[9]
Diese wichtige Unterscheidung lässt sich auch auf die Literatur anwenden. Dem Progrock entspricht die literarische Avantgarde, ihm gilt das spektakuläre Experiment als Überbrückung zwischen Unsagbarem und Sagbarem, womit er versucht, das «Nicht-Darstellbare als abwesenden Inhalt anzuführen».[10] Diese Avantgarde, die die Moderne ausgezeichnet hat, hält sich bis heute, auch wenn sie sich am Ende des letzten Jahrhunderts neue Instrumente angeeignet hat: Sie versucht die Überbrückung mit Zitaten, Genre-Übertretungen und Anspielungen, sowie einer grossen Portion an Distanz (Nostalgie oder Ironie). Zwar nennen das Menschen, die die Ungeduld haben, einen Schlussstrich zu setzen, manchmal «postmodern», aber ihrem Wesen nach bleibt diese Avantgarde weiterhin modernistisch: Sie setzt auf das Genie ihrer Autoren, auf die Distanz, die zwischen Erzähler und Erzähltem irgendwo festmachbar ist – und verleiht damit einer der beiden Instanzen eine metaphysisch grundierte Authentizität, die der Postmoderne völlig zuwiderläuft. Die kühle Distanz, die abgerundete Sprache und der funkelnde Witz von Christian Kracht, Clemens J. Setz und Thomas Pynchon gefallen auch mir (mir gefällt auch Progrock), aber man muss sich eingestehen, dass diese Art zu schreiben eine Anmassung ist: Hier gibt es kein Neues, obschon es ständig von dieser Versprechung lebt, die ihm niemand mehr abkauft.[11]
Dass sich nun eine Hinwendung zu authentischeren Formen einer vermeintlichen ‹Nach-Postmoderne› vollziehen soll (die die Menschen, die willens sind, Schlussstriche zu setzen, lieber früher als später anfangen) – zur sogenannten ‹New Sincerity›, die die Ironie überwunden habe –, ist allerdings nicht viel mehr, als das Aufspringen auf die Nostalgiewelle, die wir überall bemerken. Das Zurückgehen hinter Grunge, Postpunk und Progrock: Mit Synthie oder Indie. Hier werden wir Grossartiges zu sehen bekommen, Variationen, Fortschreibungen des früheren Modernismus – und doch nie Neues.
Das Einzige, was diesen ständigen Anachronismen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, widerstehen kann, ist etwas, was auch dem Chronismus widersteht: Die Postmoderne bedeutet die Einsicht, dass es gerade eine solche Linearität von Zeiten und Epochen nicht gibt, und die Musik, die sich ausserhalb der linearen Folgeregel von ‹vermeintlich Neuem auf vermeintlich Neues› eingerichtet hat, ist Postrock. Das Prätentiöse des «Post-» in seinem Namen, den Reynolds mit verblüffender Hellsichtigkeit schon 1994 (also eigentlich vor dem ‹richtigen› Postrock) getroffen hat, bildet genau das ab: «Postmodern wäre also als das Paradox der Vorzukunft (post-modo) zu denken.»[12]
Das Ahistorische des Postrock, sein Verzicht auf die Stimme, auf eine vernünftige Situierung in der Geschichte der Musik, sein Verleugnen des «Werks» scheint der Avantgarde aber erstmal hinterherzuhinken. Er bedient sich traditioneller Instrumente und kann dem Ideenfeuerwerk von Progrock-Künstlern scheinbar nichts entgegensetzen. Aber indem Postrock die Sehnsucht destilliert, stellt er den retrospektiven Anfang dieser Avantgarde dar, ganz genau so wie die Postmoderne nicht der lineare Folgeschritt auf den Modernismus, sondern seine Bedingung war: «Ein Werk ist nur modern, wenn es zuvor postmodern war. So gesehen bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.»[13] Der Progrock wird aus dem Postrock permanent geboren. Die Sehnsucht, die der Postrock gebärt, kanalisiert Ersterer zum Protest, zur Todessehnsucht, zu Liebesliedern und Ausbruchsfantasien. Der Unterschied liegt darin, dass Postrock die Sehnsucht von Anfang an nicht erfüllen will. Sie ist nicht Zweck, sondern Mittel, er betrachtet sie nur und perfektioniert sie.
V
With its droneswarm guitars and tendency to melt into ambience post-rock first erodes, then obliterates the song and the voice. By extension, it also parts with such notions as the singer as storyteller and the song as narrative, source of life-wisdom, or site of social resonance.
Die Postmoderne versucht, im Gegensatz zur Moderne, «das Gefühl dafür zu schärfen, dass es ein Undarstellbares gibt.»[14] Auf gleiche Weise zentriert sich Postrock um das Gefühl der Sehnsucht, die sich nach der richtigen Musik verzehrt, Postrock ist immer zu langsam, zu monoton, und ‹noch nicht ganz dort›, wo man gerne wäre[15] – und indem es diese Stimmung (eben: mehr sein zu wollen, als einem gegeben ist) vorbereitet, lässt er der Hörerin die Aufgabe, den letzten Schritt allein zu versuchen. – Deshalb lässt sich Postrock perfekt mit politischen und unpolitischen Reden samplen, mit Kindergeschrei, mit Vogelgezwitscher und hochtrabenden Bandnamen, und deshalb eignet er sich als Grundierung von Hollywoodfilmen und S-Bahn-Fahrten: weil sein Sehnen unvollständig ist.[16]
Auch der Postrock spielt also mit Zitaten und Verweisen – er benutzt phrygische Tonleitern, Ethno-Anleihen und Voicesamples. Doch der Eklektizismus des Postrock hat keine ironische Distanz, das gestohlene Material, die Klischees und Schablonen, sind ihm das Echte überhaupt: Er spielt nicht, und er braucht keine Ironie für das, was er sagt. Daher ist Wolfgang Herrndorfs Sand Postrock, während Christian Krachts 1979 Progrock ist. Die zusammengekleisterte Collagewelt aus Planet Magnon von Leif Randt ist es, aber die ironischen Abgründe von Clemens J. Setz sind es nicht. Witold Gombrowiczs Die Besessenen war vielleicht das früheste Beispiel von strahlendem Postrock, aber Adalbert Stifters Nachsommer war sozusagen Drone.
Es handelt sich in Wirklichkeit um einen ganz kleinen Korpus, und es ist Tatsache, dass von den lebenden Autoren neben Leif Randt vor allem János Moser diesen Postrock im engsten Sinn bespielt.[17] Die Texte zeichnen sich zum einen durch die völlige Einswerdung mit den Klischees aus, derer sie sich bedienen, ohne Ironie und Aktualisierung, ohne Tiefe, die sie unter ihrer Oberfläche hervorscheppen – zum anderen stellen sie die Klischees in eine neue Anordnung, richten sie auf eine neue Pointe aus, verschachteln sie in einen neuen Plot, womit sich etwas aus dem Klischee herauskehrt. Sie experimentieren nicht auf der Ebene des Paradigmas, sondern des Syntagmas, indem sie die Elemente in eine Anordnung bringen, die neue Effekte erzielt: Nicht «zusammengewürfelt», wie bei einem Setzbaukasten,[18] sondern in einem geplotteten, gezügelten Aufbau.
VI
This shift parallels tendencies in the culture (e.g., computer games, virtual reality, designer drugs) that indicate the emergence of a new model of posthuman subjectivity organized around fascination rather than meaning, sensation rather than sensibility.
Progrock sucht das Neue im Auswechseln der Elemente, in der Suche nach einer «neuen Sprache» (womit er nichts anderes meint als: neue Buchstaben, Wörter, Formulierungen und Perspektiven). Er versucht das Paradigma aufzubrechen. Von ihm stammt das überall herrschende Close Reading, das noch die letzte Silbe auf diese Bruchstelle abklopft. Von ihm stammt auch die Herrschaft der erzählfeindlichen Sprachexperimente, die nicht nur das letzte Jahrhundert dominiert haben. Von ihm stammt insbesondere die Überhebung der Lyrik, von deren Zeilensprüngen gehofft wird, sie könnten die Paradigmen durch Bedeutungsüberladung aufbrechen.
Postrock hat längst gemerkt, dass es sich bei dieser Bemühung nur um ein neues Klischee handelt – das Klischee des innovativen Modernismus. Er weiss, dass es das Undarstellbare (immer schon) gibt, welches mit der Vermeidung von «Hexen», «Spionen» und Sprachfloskeln nicht hervorgeholt und mit Zeilensprüngen und avantgardistischen Stilexperimenten nicht überbrückt werden kann. Der Postrock sucht das Neue nicht im Paradigma, sondern im Syntagma – sicher, dass nicht Buchstaben oder Wörter das Zentrum der Sprache sind. Wir beginnen, hundert Jahre nach der Erfindung des Strukturalismus, zu verstehen, dass Zeichen nicht einzelne Wörter betreffen, sondern grössere Einheiten.[19] Sie spielen mit der Möglichkeit, dass die Sprache aus Absätzen, Kapiteln, vielleicht ganzen Buchbänden aufgebaut ist und alles andere nur Verkleinerungsformen und Abwandlungen darstellen. Der Postrock nimmt die bekannten Elemente, Klischees und Wendungen, und fügt sie neu zusammen[20] – zu einem verstörten Rhythmus, der auf einen Aufbau hinzielt, ihn ständig zurückhält und schliesslich, wenn das Sehnen kaum mehr auszuhalten ist, kulminieren lässt. So, ohne je den Anschein des Aussergewöhnlichen zu machen, zerstört er das viel wichtigere Klischee vom klassischen Plot und von der Erzählhaltung, die für Ironie erst eine Doppelbödigkeit annehmen muss.
VII
With sampling, what you hear could never possibly have been a real-time event, since it’s composed of vivisected musical fragments plucked from different contexts and eras, then layered and resequenced to form a time-warping pseudoevent. You could call it «deconstruction of the metaphysics of presence» ; you could also call it magic.
Die Literatur des Postrocks gehört zu einem Verständnis von Sprache, das begriffen hat, dass es Metaphern und Ironie nicht gibt, weil alles immer das ist, was es bedeutet und es keine Uneigentlichkeit geben kann (es bedeutet nur eben nicht unbedingt etwas). Und das von der Arbitrarität der Sprache abgesehen hat, weil es sonst die Sprache aus der Welt nimmt. Es bedient sich der Fantasie als der Welt: Das literarische und das Hollywood-Klischee sind reale Tatsachen, sie sind die einzige und wichtigere Realität, die beschrieben werden muss, unser Denken ist von ihm durchdrungen, und ebenso verhält es sich mit dem «gebrochenen» oder dem «vermiedenen» Klischee, dem sich der Progrock ausliefert.
In seinen rhythmisch versetzten Störungen kann er noch einen Weg zum Neuen finden. Natürlich kann das nicht mehr das gleiche ‹Neue› sein, wie es der Modernismus noch naiv versprechen konnte. Denn er bewegt sich ausserhalb der chronologischen Linearität und das Neue wäre überdies posthuman, also niemandes Neuheit. Man müsste stattdessen sagen: Er kann einen Weg zum Anderen finden. Wenn Im Krater, dem erscheinenden Buch von János Moser, ein streng komponierter Provinzroman verzweifelt ins Naiv-Fantastische zu kippen droht, ohne es ganz zuzulassen, ja, der sogar mit aller Kraft gegen diese Lächerlichkeit und gegen die in ihm angelegte Entwicklung hält wie ein unerbittlicher Takt von Maserati, obwohl er sich in diesen Abgrund sehnt – so wird die naive und begehrte Fantasie ständig gegen eine harte Erzählwelt ausgespielt, streng und sehnsuchtsvoll, bis beides aneinander zerbricht. Das Personale des Erzählens wird zugunsten von Karikaturen aufgegeben, die wandelnde Fantasien (Ideologien, Klischees, Charaktere) sind. Das Klischee wird nicht in ironischer Doppelbödigkeit, etwa als Metapher, versteckt, sondern bleibt als Metonymie mit der Fülle der Geschichten und Fantasien verbunden, denen es entspringt (oder denen es – immer schon – vorherging). Sie bilden Protagonisten und Antagonisten des Texts. Es ist ein Buch ohne Menschen, eine Literatur ohne Eingeweide, die aber alles berührt, was sie anfasst.
Wer Postrock macht, vertont Fantasien, er ist die Wiedergabe einer Stimmung und nicht das Schaffen einer Stimmung, er vertont eigentlich die Musik. Wo Progrock die Kindheit oder etwas Verlorenes ansichtig macht (ein klassisches «Wish You Were Here» Pink Floyds), heisst ein instrumentaler Postrocksong von Mono schlicht «Nostalgia» – Nostalgie wird besungen, nicht evoziert (evoziert wird damit etwas Neues). Und ebenso bespielt seine Literatur nicht die Welt, sondern die Fantasie überhaupt (die die einzige Welt von Belang ist). Er handelt nicht von Personen, Absichten und Begebenheiten sondern von Ideologien, Begehren und Debatten. Er spielt auf der Klaviatur der Fantasien, aber er aktualisiert sie zugleich, stimmt sie neu, einfach dadurch, dass er für sie andere Anordnungen findet, langsamere und ironielose, die dadurch fähig sind, rekursiv die Bedeutung ihrer Elemente zu verändern.
So verfertigt Postrock ein neues Verständnis vom Gebrauch der Rockinstrumente durch ihren Missbrauch – und die Literatur ein neues Paradigma durch ein missbräuchliches Syntagma: Wie sich ein alltägliches Wort, das man unzählige Male laut vor sich ausspricht (z. B. ‹Sessel› oder eine ‹Rose›, die eine ‹Rose›, die eine ‹Rose› ist), plötzlich von seiner Bedeutung ablösen und zu einer verstörenden Ansammlung von Lauten werden kann, stösst am Ende eines Postrock-Texts eine ‹Hexe› auf Irritation. Ihre Bedeutung hat sich so aktualisiert, dass man nicht mehr weiss, was ‹Hexe› am Anfang bedeutet hat, dass eine Hexe also neu gedacht werden muss – es aktualisiert nicht ‹nur› die Sprache, sondern die Welt, da Sprache und Welt metonymisch (immer schon) verbunden sind. Die Rekursion lässt schliesslich Hexen entstehen («you could also call it magic»).[21]
Diese Rekursion verlangt aber auch eine Form des Distant Readings, diese Texte zu lesen.[22]
VIII
Because that limbo-land between bliss-scape and paranoia-scape, narcosis and nightmare is where we who live under the sign of the post- find ourselves.
Wenn man mich vor zehn Jahren gefragt hätte, wo Postrock im Jahr 2017 stehen würde: Ich hätte es nicht erraten. Entweder blieb ihm der Sturz in die Vergessenheit, den er längst suchte und begehrte, schon bevor es ihn gab, oder aber unendlicher Ruhm und Anerkennung in einer Welt, die sich von der herrschenden in jeder Weise unterscheiden musste, einer Welt, in der es so gewöhnlich wäre, dass Jugendliche vor dem McDonald’s zusammen weinten, wie man sie heute dort lachen sieht, jeder den anderen in rauem und coolem Schluchzen ausstechend, und die tränennasse Lederjacke mit der Chilisauce drauf.
Nie aber hätte ich geahnt, dass es mit dem Bergmal-Festival in Zürich eine Postrock-Institution geben würde, dass GY!BE sich wiedervereinigte und dass Postrock langsam in die urbanen Electro-Label wie Erased Tapes Records einsickerte: Postrock ist da, aber doch nicht richtig und spielt mit den ersten Zeichen seiner Ankunft, als hätte er nicht vor, so schnell wieder zu verschwinden. Die Zeiten, als ganz Europa in die Vorstädte Brüssels fahren musste, um eine Postrock-Band zu sehen, sind definitiv vorbei.
So geht er, 15 Jahre nach seinem Höhepunkt, mehr als 20 Jahre nach seiner Entstehung, langsam in die Kulturlandschaft ein – ein lächerliches Tempo in den Zyklen unserer Zeit, und eigentlich gerade die Dauer, um etwas altmodisch und uncool zu machen. Aber diese Ankunft muss der Literatur Hoffnung machen.
IX
In post-rock, «soul» is not so much abolished as radically decentered, dispersed across the entire field of sound, as in club musics […]. Music that’s all surface and no «depth,» that has skin instead of soul.
Postrock mit Vierzehn war meine «Metanoia»: Alles hat sich für immer verändert, und es gibt kein Zurück. Deshalb schäme ich mich ein wenig für den Postrock – er hat mich ganz unanständig berührt.[23] Krankhaft suche ich nach der Literatur aus Haut, die mich so streicheln würde wie die Musik.
Ich spüre sie näherkommen. Mehr und mehr wollen mehr sein, als sie sind, und mehr haben, als sie bekommen haben. Sie verzichten auf Erfüllung und Bedeutung für etwas Überwältigenderes – «fascination rather than meaning, sensation rather than sensibility». Und geben sich ganz auf, um ein Kanal zu sein für eine grössere, totale, unmenschliche Sehnsucht nach Anderem.
Erst, wenn Literatur aus dem Leder von The Seven Mile Journey geschnitten ist, werde ich gesund sein.
Cédric Weidmann
[1] Dominik Holzer: Das bleiche Kerzchen unseres Daseins ist eigentlich ein Orkan, delirium N°07.
[2] Simon Reynolds (1995): «Post-Rock», in: Audio Culture. Readings in Modern Music, ed. By Christoph Cox and Daniel Warner. New York/London: 2005. p. 358-361. Original publiziert in The Village Voice. Alle Zwischenzitate aus diesem Aufsatz.
[3] Vgl. Jack Chuter: storm static sleep. A Pathway Through Post-Rock. London 2015 ; Jeanette Leech: fearless. The Making of Post-Rock. London 2017 ; Lance Bangs: The Breadcrump Trail (Dokumentarfilm). USA 2014.
[4] Zuerst verwendet er den Begriff bereits in Interviews von 1993, formuliert ihn allerdings ein Jahr später in zwei Essays aus.
[5] Simon Reynolds: Retromania. Pop Culture’s Addiction to its Own Past. London 2012., Mark Fisher: Ghosts of My Life. Wirtings on Depression, Hauntology and Lost Futures. 2014.
[6] Diese Verweigerung folgt aus der Definition Reynolds’: «rock instrumentation for non-rock purposes.» ; Slint-Gitarrist David Pajo zu Spiderland: «I was really into anti-guitar, anti-chops, anti-solos. […] I just wanted to fuck it up. So I would play one note. Or play a modality that doesn’t fit.» Chuter: storm static sleep, S. 34.
[7] «[P]ost-rock would become synonymous with traversing the vast gulf between quiet and loud, rendering one extreme more potent in wake of the other, like flicking the lights on a room that has been dark for weeks.» Chuter, S. 36.
[8] Gerade das ist Pathos, πάθος, bis zur Schmerzgrenze. Umgekehrt eignet sich Postrock hervorragend zur Filmmusik, wie die Mogwai-Alben zum Dokumentarfilm über Zinédine Zidane oder zur TV-Serie Les Revenants meisterhaft bewiesen haben.
[9] Postrock/Progrock ist eine fast schon klassische Unterscheidung (vgl. Chuter: storm static sleep, S. 1). Ich verwende Progrock hier als Bezeichnung für jede Disposition, die ihre Originalität in einer Distanz zum Gegenstand verortet – dazu wären Dancehall, Vaporwave, Trap, Indierock usw. ebenso zu zählen.
[10] Jean-François Lyotard: «Antworten auf die Frage: Was ist postmodern?», in: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Wien 2009. S. 31. – Genau: Das Dichberührenwollen der Texte.
[11] Genau wie der Neoliberalismus vom Versprechen des Neuen lebt, das er nicht einlösen kann.
[12] Lyotard: «Antworten auf die Frage: Was ist postmodern?», S. 32; «If it’s truly the point of departure from rock music, why retain the word ‘rock’ within the term at all?» Chuter: storm static sleep, S. 3. Das ist die grosse Spannung zwischen dem Anspruch von Anti-Rock und Rock, die Postrock («rock instrumentation for non-rock purposes») ausmacht.
[13] Lyotard: «Antworten auf die Frage: Was ist postmodern?», S. 28.
[14] Ebd., S. 31.
[15] «[Postmoderne] Künstler und Schriftsteller arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird. Daher rührt, dass Werk und Text den Charakter eines Ereignisses haben. Daher rührt auch, dass sie für ihren Autor immer zu spät kommen, oder, was auf dasselbe hinauskommt, dass die Arbeit an ihnen immer zu früh beginnt.» Ebd., S. 31f.
[16] Ich kann nicht zählen, wie oft man mir gesagt hat, Postrock wäre zu depressiv oder melancholisch. Aber keine Musik sonst spricht aus, was doch ausgesprochen gehört: dass auf dieser Welt nur glücklich wird, wer dumm oder anspruchslos ist. Und es ist schöner, von diesem Punkt auszugehen.
[17] János Mosers Texte gehen, teilweise explizit, auf die Einflüsse des Postrock zurück, dessen begeisterter Anhänger er ist.
[18] So die Kritik an der Anbiederung «realistischer» Autoren an die «Fantastik». János Moser: Die Hexe des Realismus. delirium N°08.
[19] Zum Beispiel geht die Konstruktionsgrammatik von wortübergreifenden form-meaning pairs aus. Für Leiss ist es der Satz: «Daraus lässt sich ableiten, dass erst der Satz als vollständiges Zeichen gelten kann.» Elisabeth Leiss: Sprachphilosophie. Berlin/New York 2009. Zit. n. Avanessian/Hennig: Metanoia, Berlin 2014. S. 73.
[20] «Dieser scheinbare Nachteil der fantastischen Literatur kann aber auch zu ihrem Vorteil werden: dann nämlich, wenn Hexen als wiederholbare Fantasie wahrgenommen und gewürdigt werden.» Moser: Die Hexe des Realismus, delirium N°08.
[21] Aus Platzgründen kann ich nicht genauer zeigen, weshalb die luzide Sprachphilosophie aus Metanoia im literarischen Postrock seine Entsprechung gefunden hat: Aber jeder, der sich mit dem brillanten Buch auseinandersetzt, wird merken, dass Postrock eine perfekte Reaktion auf die Erkenntnis sein kann, dass Sprache nicht Metapher, sondern Metonymie ist, und dass es eine Kontiguität zwischen Sprache und Welt gibt.
[22] Womit gerade nicht die Begriffsstümperei von Franco Moretti gemeint ist, der mit Big Data zwar hunderte Bücher gleichzeitig durchleuchtet, sich aber weiterhin auf partikuläre Begriffe und Formulierungen stürzt. Distant Reading müsste heissen, textliche Strukturen weiter zu fassen. – Etwa wie es Samuel Prenner in der Kritik zu Mosers Text aus N°08 versucht. Schlingen, delirium N°08.
[23] «[T]he term really is that embarrassing.» Garrett Kamps: 30 Essential Post-Rock Songs. Stereogum 07.01.2015.
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