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Der Marionettenkönig – Erster Teil

Wie es dazu kam, weiss ich nicht mehr so genau. Ob es die verworrenen Umstände waren, die sich auf diese Weise entwickelten. Die Leitung verschiedener Mächte aus göttlichen Beweggründen. Vielleicht aber war es doch das Schicksal, die Bestimmung dass es nur diesen einen Weg gab. Auf jeden Fall weiss ich, dass es dazu kam. Und da bin ich mir sicherer denn alle Götter der Welt. Ich habe es erlebt, ob es Wahnsinnstraum war, schlicht Wegs ein Hirngespinst oder eine komplexe Illusion. Es war mir so genau vor Augen, als wäre es der Realität entsprungen. Und wenn dem nicht so war, was sollte ich von meinem Leben, das nur aus meinen eigenen Eindrücken besteht, anderes erzählen, als das Sonderbarste, das ich je erlebt habe?
Nun, beim Anfang der Ereignisse, in der Schiffskabine der Andriell. Ein sonderbarer Name, unbestritten und doch hatte er’s mir angetan. Beim flackernden Kerzenlicht hab’ ich geschrieben, ich wusste nicht, was. Mein Kopf war schon mit mehreren Bierkrügen gefüllt und es war mir egal, ob das Geschriebene einen Sinn machte. Ich hatte mich zuvor an der Bar am Deck noch hoffnungslos besoffen. Als gegen den späten Abend das Geld und der Rausch verebbten. Ich begann wieder zu denken und ich sträubte mich dagegen.
Da war ein Typ neben mir gewesen. „Gott“, sprach er mit einigen Cocktails in der Stimme, „lauert auf den Wolken mit einem Scharfschützengewehr“ Er becherte das Bier in seine Gurgel. „Bum!“ Hatte er gelacht und wandte sich wieder dem halben Glas zu. Ich trat von der Bar weg, stand an das Geländer des Decks und starrte in den Himmel. Der Mann im Mond, manchmal beschattet von den grauen Wolken, lud gerade nach.
Sicher, ich konnte kaum mehr Wirklichkeit von Halluzinationen unterscheiden. Das wollte ich auch nicht, ganz im Gegenteil, am Liebsten wäre ich in der Tiefe meiner Gedankenwelten versunken.
In der Tiefe meiner Gedankenwelten. Ja, fortan sollte das mein Zuhause sein. Ich denke zu viel, dachte ich und mich fror. Ich drehte mich um und sah zurück zur Bar. Und mir schoss ein Gedanke durch den Kopf, so fremd. Was ist unsere Bestimmung?, fragte ich mich. Denn so wie ich den Mann an der Bar sah, der mit seinem waffenliebenden Gott, schien er auf sein Glas zu starren, als sei es seine Bestimmung die Bar zu räumen. Der Gedanke mochte von Spott angereichert sein, doch eigentlich hatte ich selbst nie über die Bestimmung oder Ähnliches nachgedacht. Und je mehr ich darüber nachsann, desto eher wurde mir klar, dass der Spott nicht angebracht war. Wer weiss schon, vielleicht ist es eine sinnvolle Bestimmung den Alkohol in seinen Körper zu schütten, sich zu vernebeln. Und war nicht ich vorhin auch schon soweit, alles Bier in meine Kehle hinunterzustürzen? Mit benebeltem Verstand konnte ich nicht mehr klar denken, und vielleicht ist es ja ganz und gar richtig nicht zu denken.
Wär’s doch schön, wären wir alle dumm! „Bum!“, dachte ich. Verdammt, schon wieder dachte ich. Zu viel, zu oft. Ich stieg hinunter zu den Kabinen, ich wollte schlafen, einfach schlafen, bevor mein Denken wieder begann. Ich öffnete die Kabine. Die Gedanken rasten im Kopf und ich wollte doch nur, dass sie aufhörten, anhielten, endlich ruhig wären. Doch nichts half. Ich lag im Bett und dachte und dachte. Ob es wohl meine tragische Bestimmung war, die mir all diese Gedanken aufzwang. Ich sollte nicht denken, aber weil ich denke ist eben jenes Nicht-Denken, meine Bestimmung, dachte ich. Unerreichbar. Ich fragte mich, was die Muster an der Wand bedeuten mochten, ich fragte mich, was mein Leben bedeuten mochte. Ich sah die Blumenvase. Was ist ihre Funktion? Sie hatte keine. Die Schiffsmannschaft hatte sie aufgestellt, damit es schön aussah, damit ich zufrieden wäre. So hatte sie doch eine Funktion.
Ich sprang aus dem Bett, in der Hoffnung die Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Sie schwirrten herum wie tausende brummende Fliegen. Ich wankte. Wie Millionen kleiner Insekten. Würmer die sich im Kopf wanden, Käfer, die herumschwirrten. Spinnen.
Ich hatte mich ans Pult gesetzt und ohne dass ich es bemerkt hätte, zu schreiben begonnen. Beim flackernden Kerzenlicht hab ich geschrieben, ich wusste nicht, was. Mein Kopf war schon mit mehreren Bierkrügen gefüllt und es war mir egal, ob das Geschriebene einen Sinn machte. Solange ich einfach nicht daran denken musste. Ich litt unter der Qual. Ich wankte unsicher auf dem Stuhl, doch ich schrieb weiter.

Als ich erwachte, seufzte ich laut, doch nicht unter den Höllenschmerzen, die mir der gestrige Tag hinterlassen hatte. Ich seufzte; heute war ein weiterer Tag. Der Tag meines Körpers unter der Herrschaft der Seele. Und ich sah die Körper, und die Seelen, wie sie zu langen schmerzhaften Hieben ausholten, ich hörte die Peitsche knallen. Mir standen leere Tränen in den Augen. Der Rausch war wohl noch nicht ausgeschlafen. Ich lag noch immer im Bett und starrte abwesend aus dem Fenster. Das Schiff wippte friedlich hin und her. Unter einem schrecklichen Kater entwand ich mich dem Bett und schlurfte zum Tisch. Das Blatt lag da. Da stand:
>Liebe Freiheit, ich möchte höflichst meine Bitte kundtun. Und auch wenn wir alle wissen, dass es Euch nicht mehr gibt, so hoffe ich doch sehr, dass Sie mich erhören werden: Lasst mich frei! Ich weiss, dass nur Sie dazu im Stande sind, weil Sie auch diejenige waren, die mir die Ketten anlegte. Es gibt so viele andere, die Sie in ihren Fesseln halten und ich möchte mich von dieser Gefangenschaft losreissen. Sie wissen, ich bin krank, ich bin nicht mehr fähig etwas zu ändern, und so bitte ich Sie mich zu entlassen. Mein Tod ist nah. So erlasst mir doch diesen Wunsch.
Gruss ergebener Edward.< Das allerseltsamste war der Umstand, dass das einzig Sonderbare, das mir als erstes auffiel, die untypische Schreibweise war. Erst danach kroch mir langsam die Kälte den Rücken herunter. Ich war zur befremdeten Statue versteinert. Was ich geschrieben hatte war seltsam. Sehr seltsam. Und doch war es mir viel zu wenig seltsam. Was da stand erschreckte mich, keine Frage, doch war das nicht das einzige Gefühl, das mich überkam. Ich war bedrückt von Mitleid, ganz so als hätte es jemand geschrieben, der nicht mehr zurechnungsfähig war. …Gestern Abend war ich es ja auch nicht mehr. Ich hörte Schritte auf dem Gang. Sofort schaute ich zur Uhr. Ich musste mich beeilen. Schnell zog ich mich an, entzündete eine Zigarette und betrachtete aus dem Augenwinkel den Brief, als hätte es damit etwas Unberechenbares auf sich. Vielleicht stimmte es… Ich drückte die erst aufgeglühte Zigarette auf dem Pult aus und warf sie sorglos in den Aschenbecher. Ich stürmte aus der Kajüte, riss die Tür auf und trat geschwind auf den Korridor. Dahinten war er schon. Eine massige Gestalt bewegte sich auf mich zu. Der Mann trug einen schwarzen Massanzug. Natürlich, Kleider für Fleischkugeln wie der es war, gab’s nicht in der Massenproduktion. Die Kugel überflog die Dokumente in seiner Hand im Laufen und er lief erstaunlich schnell. Der Helfer nahm hastig die Blätter entgegen, während ihm der Mann etwas zugrunzte. Der Kontrast war lächerlich. Während man der Kugel im Massanzug zugetraut hätte durch die Gänge zu rollen, stand der viel zu gross gewachsene Helfer unbeholfen und den Kopf unter der Decke eingezogen neben ihm. Einige Blicke von Mitreisenden verfolgten missmutig die Hast. Während ich wartete strich ich meinen purpur-schwarzen Nadelstreifenanzug glatt. Der Hut sass schon recht. Als die Gehetzten vorbeizogen, gliederte ich mich geschickt ein. Ich durchschritt den Korridor, gleich hinter dem mächtigen Rücken des Helfers. Wir erklommen rasch die Treppenstufen zum Deck. Eine Kellnerin sah unsere Gruppe und eilte mit drei Cocktails herbei. Ich bedankte mich, doch die Kugel nahm das Glas nur schwungvoll und schweigend entgegen. Sie stand ans Geländer und überblickte den morgendlichen Ozean. Der Helfer stellt eine Frage, gewohnt diskret. Die Kugel gab mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie damit nicht mehr gestört werde. Der Riese trat mit einem Nicken weg. Wir tauschten einen nichtssagenden Blick. Ich lehnte ans Geländer neben dem Fleischbrocken. Wir schwiegen; wie gern hätte ich mit einem Satz vom Wetter geschwärmt, doch ich durfte kein Verständnis für solche Dinge erwarten. Nach einer Weile durchbrach ich die Stille: “Sir?“ Der Mann grunzte. Ein gutes Zeichen, wollte er verneinen, hätte er mich hier und jetzt von Deck stossen lassen. Ich wollte ihm gerade eine Zigarre anbieten, als er schon eine aus der Westentasche zog und in sein von Falten umkränztes Gesicht schob. Ich überlegte schnell, das war meine Pflicht. Ich wollte meine Frage hinauszögern, aber es war schief gelaufen. Ich hatte eine Notlösung bereit: „Ein Schach?“ Mir war ganz und gar nicht danach zumute und trotzdem fand ich Erleichterung, als der Sir nickte. Ich gab der Kellnerin ein Zeichen, sofort bereitete sie es vor. Wir schlenderten und als wir an einem sorgfältig verzierten Tisch ankamen, war das Brett mit Figuren aufgestellt und bereit. Es war kaum zu erkennen, doch ich wusste nach langem Hinstarren, es war ein Lächeln, das meinem Spielpartner beim Anblick des Schachs übers fleischige Gesicht huschte. Ich spielte ruhig und gelassen. Manch einer hätte es nicht mit meinem Gegner aufgenommen. Nicht weil er gut spielte, oder dieses gleichen, sondern weil sie mit den Konsequenzen rechneten, wenn man gegen „Sir“ El Pandora – der Name war nur einer unzähliger seltsamer, die mir schon über den Weg gelaufen waren – kämpfte. Pandora mochte nicht sehr weit bekannt sein, doch wer ihn kannte, der hätte sich nicht gegen ihn gestellt und sei es auch in einem Spiel. Denn jenem El Pandora, den nur zwei Schritte von mir trennten, gehörte die Welt. Dieser Mann hatte alle Fäden in der Hand. Alle. Die Wichtigsten der Wichtigsten würden jedem seiner Wünsche Folge leisten. Er hatte Beziehungen in der ganzen Welt, in allen Bereichen, war gewieft und mächtig. Der Helfer, der für seine Verträge zuständig war, erntete wohl ein grösseres Gehalt als mancher Konzernführer. Ich war am Zug. Es war nicht gut, wenn ich solange bräuchte wie El Pandora. Er wurde schnell ungeduldig, aber ich kannte ihn wohl besser als jeder andere und wusste wie zu handeln war. Mein Läufer durchzog das Brett. El Pandora brummte. Das war seine Art Begeisterung zu zeigen. Dieser Mann hatte die Fäden der Welt in der Hand, ich hatte ihn in der Hand. Seit Jahren war ich darauf geübt zu merken, wann er was will, wie ich ihm meine Meinung kundtue. Ich überlegte schnell und sorgsam. Viel meiner Achtung war darauf verschwendet gewesen, jedes Augenflattern, jedes unbewusste Zeichen zu deuten und entsprechend zu reagieren. Das war mehr, als man von einem Liebespartner nach einem halben Jahrhundert erwarten durfte. Doch war das natürlich nicht zu vergleichen. Ich war sein Hofdiener, sein Hofnarr. Sein gekaufter Freund, der ihn unterhalten musste. Viele vor mir hatten sich an dieser „Arbeit“ versucht und doch hatte niemand das geschafft, was ich erreicht hatte. Die Macht der Welt lag in meiner Hand. Pandora hatte alle Fäden in der Hand. In der meinen ruhten die seinen und die Marionette selbst. Die Macht war es damals gewesen, die mich faszinierte. Die Macht, die mich nun dahin gebracht hatte, wo ich jetzt stand. Das Spiel war bald zu Ende. Ich hielt mich zurück zu gewinnen. Sonst ging die Rechnung nicht auf. Ich durfte nicht zu oft gewinnen, weil es ihm den Spass verdürbe, er durfte nicht zu oft gewinnen, weil es ihm langweilig würde. Berechnung. Ein leichtes Gefühl von Befreiung durchströmte meine Adern, als das Schach wieder abgeräumt wurde. Mein Gegenüber erhob seine Masse mühsam aus dem Sessel. Ich machte Anstalten ihm aufzuhelfen, doch er bedeutete mit einem strengen Wischen seiner Hand, man solle es gar nicht erst versuchen. Ich hielt einige Schritte Abstand und blickte über das Deck hinweg. Falls es an mir liegen sollte, zu bestimmen, was als nächstes zu tun sei, wäre ich bereit und ich hatte mehrere Möglichkeiten, die ich in meinem Inneren sorgsam auswog. Ich suchte den nächsten Schritt zu nutzen. Doch ich war auch froh, als El Pandora grummelte: „Allein.“ Das war ein eindeutiges Zeichen, er wollte in Ruhe gelassen werden. Hinter dem Mann steckte auf geheimnisvolle Weise etwas geniales, und ich fragte mich, was er tat, wenn er alleine war. Mit welchen Problemen er sich rum schlug. Aber das ging mich nun mal gar nichts an. Ich wandte mich höflich ab und strebte auf die Bar zu. Ein alter Mann sass da, gekrümmt, gebrochen. Ich schwang mich auf einen Sessel nebenan. Der Barmann trat hinter die Theke und fragte, was es denn nachmittags sein dürfe. „Bier!“, ich kümmerte mich wenig um die angeekelten Cocktailtrinker. Ich bestimmte nicht eine Sorte und nahm auch nicht einen pseudokaribischen Mix, aber die Reaktion der anderen war mir völlig egal. Der ältere Mann neben mir, starrte gebückt auf sein Glas, er schwitzte und schien in sich verschlossen. Ich wartete einen Moment, ob er sich aus der Haltung lösen würde, als nichts geschah entschwand ein bedeutungsloses „Hallo“ aus meiner Kehle. Er schaute vorsichtig hinüber, schien überrascht, dass da jemand war, aber er glotzte mich nur mit weit geöffneten Augen an. „Hallo.“ Und er verfiel wieder in sein Grummeln. Ich hörte einige Minuten konzentriert Musik. Aus den Lautsprechern über der Theke rieselte die leise Kakophonie in die Ohren der Besucher und stimmte sie genervt oder versetzte sie in eine stille Hypnose. „Wohin wollen Sie?“ Er schaute mich verwirrt an. „Wie bitte?“ „Wohin, dass es gehen soll“ „Ach so. Eigentlich weiss das nur meine Frau. Sollte eine Überraschung sein.“ „Eine Überraschung?“ „Ja, zum Geburtstag.“, sprach er tonlos. „Ach, zum Geburtstag? Sie scheinen nicht gerade begeistert.“ „Hm,…“, sagte er geistesabwesend. Ich gab’s auf und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf mein Glas, wie ich das immer zu tun pflegte. Es leerte sich nur zögerlich. Ich sah ab und an aufs Meer hinaus und liess mich vom frischen Duft des Salzdunstes überzeugen. Der alte Mann fiel mir nur durch gelegentliches Glucksen auf, bis ich mich daran machte ihn zu beobachten. Es war ein charismatischer Typ, seine tiefen Falten und seine grauen Haare zeugten von grossem Wissen und Intelligenz. In mir keimte die Frage auf, wie sich so jemand nur betrinken wollte, und das nicht zu knapp. In seinem Blick lagen auch schon mehrere Drinks. Ich schaute ihn betroffen an. Nach einer gewissen Zeit, schien er meinen Blick bemerkt zu haben, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Er zuckte nur manchmal scheu mit der Schulter und rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Wissen Sie -Wissen Sie warum manche Menschen nie mit der Welt zufrieden sind?“, sprach er plötzlich. Ich zuckte zusammen. Mir war es nicht bewusst, aber es war eine jener Fragen, die mich beschäftigten. Die Tage und die Nächte. Ich war alles andere als zufrieden. Und das, obwohl ich ja eigentlich die Welt beherrschte, wie ich heute festgestellt hatte. Warum war es mir also unmöglich, Befriedigung zu finden? Ich suchte schon mein Leben lang nach Genugtuung. Also hörte ich genau hin. Er lehnte sich weit zu mir herüber, sodass ich seine Cocktails, die er diesen Nachmittag runter geschüttet hatte, erraten konnte. Sein Gesicht war nachdenklich und er schaute mir prophezeiend in die Augen. Ob er tatsächlich so geheimnisvoll tat, oder ob ich mir das nur einbildete, vermochte ich nicht auszumachen. Ich war nervös, vielleicht hatte ich ein bisschen Angst, aber vor allem konzentrierte ich mich auf das, was ich hören würde, sodass mich alles andere wenig kümmerte. Das Gesicht des älteren Mannes ruhte immer noch vor meinem. Er atmete tief ein, suchte sich seine Worte wohl immer noch sorgfältig aus. Er setzte zum Reden an – doch er schien sich zu besinnen. Mit einem resignierten Gesichtsausdruck und einem bitteren Lächeln rückte er wieder gerade auf seinen Sessel. „Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht mit dem Geschwätz eines alten Spinners belästigen.“ Perplex schaute ich mit offenem Mund an, wie der Mann die Bar verliess und langsam die Treppe zu den Kabinen herunterstapfte. Auf seine Frage hätte mir auf die Schnelle eine beschwichtigende Antwort einfallen müssen. Unter allen Umständen hätte ich seine Meinung dazu hören wollen, ihn irgendwie aufhalten müssen, aber ich blieb nur sitzen, den Blick auf die Stelle gerichtet, wo sein Kopf verschwunden war. Es war möglich, dass mich die Furcht vor der Antwort hatte zögern lassen. Keinesfalls wollte ich mir eingestehen, dass ich nicht schlagfertig genug gewesen war. Mir hätte bei einem Moment von solcher Wichtigkeit alles daran liegen müssen, ihm diese Lebensweisheit abzunehmen. Es konnte sein, dass ich die Meinung überschätzt habe, aber die Leere, die die falsche Hoffnung hinterlassen hatte, lag schwer in mir. Ich ärgerte mich unsäglich über meine Unfähigkeit. Mit einer grossen Trauer, die mich mit einem Schlag überwältigte, starrte ich mit leerem Blick in den Himmel über dem Horizont. „Und jetzt?“ Ich seufzte. „Was geschieht jetzt?“ Die Trauer lastete auf meiner Lunge. Erstickte mich. Ermüdete mich. Ich stand von der Bar auf. Warf etwas Geld auf die Theke. Ich wusste nicht, ob ich schon gezahlt hatte, und im Stande zu zählen, war ich nicht. Ich keuchte. War ich krank? Schweren Schrittes, doch zielstrebig torkelte ich ans Geländer. Sah das Wasser strömen. Der Bug durchschnitt weite, weite Ewigkeit. Rauschen. Meine Gedanken erwachten wieder. Lehnten sich auf. Traurige Gedanken. Unendlich traurig. Ich schickte sie ins Wasser hinunter, versenkte sie in der Tiefe und liess sie davon treiben. Doch es kamen neue. Und immer mehr. Sie versprühten am Bug in alle Richtungen. In die Luft. Trauer vermischte sich mit klaren Gedanken. Verwirrt. Trauer füllte mich aus. Machte mich schwer. Versenkte uns alle in der Tiefe. In die ewige See hinein. Und doch war ich zu leicht zum Sinken. Zu schwer zum Schweben. Eingeklemmt. Trieb auf der Ewigkeit. Auf ewig. Ich war nicht mächtig, die Gedanken aus meinem Bewusstsein auszuschliessen. Es war ein Spielplatz für Gefühle. Sie machten mich fertig, kümmerten sich nicht um meinen ausgestorbenen, in Trauer ertränkten Kadaver. Denn es war, wie wenn man verstossen ist, ausgeschlossen ausgegrenzt. Sie liessen mich nicht rein, liessen mich allein. Und spielten mit mir. Ich sollte mit ihnen spielen dürfen! Dunkler, klarer, heller, trüber Nachmittag. Am Horizont ein ewiger Kampf zwischen Wasser und Luft. Doch die Trauer war zu stark. Das Meer frass den Himmel. Trübe, helle, klare, dunkle See. Das Wasser stieg an meinen Kopf, verschlang mich. Ich konnte nicht aufhören zu denken. Die Welt ist eine Tragödie in drei Akten und ich sterbe vor der Probe. Pessimismus. Alles ergründender, realistischer, teuflischer, mächtiger Pessimismus. Ich versuchte die melancholischen Gedanken mit Wut zu neutralisieren. Aber es ging nicht, denn alles war zu traurig. Einsam. Verloren. Verschwunden. Gefressen. Verschluckt. Verdaut. Gedanken. Sie sollten mich loslassen! Ein neuerlicher Anfall hatte mich ergriffen. Ich schaute noch einmal zum Wasserstrom. Ich schüttete mich aus, was schon lange in mir gelegen hatte. Alkohol, Gedanken, Trauer. Ich weinte, während ich mich übergab. Schüttete meine Seele aus vor der Ewigkeit und versenkte die Gedanken für ewig darin. Doch sie sanken nicht, das wusste ich. Trotzdem war ich beruhigt, entlastet, befreit. Meine Umgebung war verschwommen. Zerflossen in der Träne. Ich weinte. Einige Passagiere sahen mich missmutig an. Sie wichen dem Verrückten aus, der am Geländer lehnte, auf dem Boden sass und seltsam schluckte. Ich konnte den Mann verstehen, der sich mir im letzten Moment verschlossen hatte. Die Leute hier waren weder offen, noch freundlich. Sie waren allesamt einfach nur widerlich. Ich hatte aufgehört zu weinen. Tränen trockneten. Ich fühlte mich frei. Unsäglich frei. Und nur noch wenig einsam. Der säuerliche Geschmack von Mageninhalt, lag mir auf der Zunge. Der Nachgeschmack von Traurigkeit, Melancholie, Gesellschaft und allen anderen Gründen, aus denen man sich betrinkt. Ich wollte mich ein neuerliches Mal übergeben, aber ich war zu erschöpft, blieb kraftlos sitzen, atmete schwer. Nur der Barkeeper warf mir ab und an einen bedeutungslosen Blick zu, alle anderen wussten die Probleme der Mitmenschen zu übersehen. Und irgendwo am seltsamen Nachmittagshimmel erblickte ich den verträumten Kopf meiner Marionette. Zwischen Himmel und Oberdeck, nachdenklich. >Meine Marionette<, der Ausdruck hatte etwas Heuchlerisches, wirkte aber vertraulich und ich freundete mich sofort mit ihm an. Der schwarze Zylinder auf dem runden Kopf wankte gefährlich im Wind, es konnte aber auch nur das Flimmern am Horizont sein. Es war mir überhaupt ziemlich egal. Ich atmete frei und unbeschwert. Ich war nicht glücklich, aber von Zufriedenheit eingenommen.
Sass am Geländer, bis es dämmerte. Die Bedienung erweckte dazwischen immer wieder den Anschein, mich ansprechen zu wollen. Man wollte mich scheinbar darauf hinweisen, dass ich keinen guten Eindruck bei den Passagieren mache, aber niemand hatte den Mumm dazu. Ich verfolgte ihr unentschiedenes Hinundherwanken nur mit ausdruckslosem Gesicht.
Eure Geldbeutel können nicht weglaufen. Wir sind auf einem verdammten Schiff zusammengepfercht, also beruhigt euch. Was wollen sie schon machen?
Erschöpfte Gedanken wanderten nur langsam durch meine Gehirnwindungen. Ich war müde, zu müde um aufzustehen. Was wollte ich denn machen, fragte ich mich. Ich fluchte und schimpfte innerlich solange, bis ich stöhnend und seufzend äusserlich aufstand. Meine Augenlieder hatten sich einen Spass daraus gemacht, immer wenn ich nicht aufpasste, zuzuklappen. Wie kleine Kinder, die man nicht allein lassen durfte. Ich stolperte die Treppe hinunter und irgendwann kam ich in meinem rettenden Zimmer an, und liess mich aufs Bett fallen. Bevor ich den weichen Stoff unter mir spüren konnte, war ich eingeschlafen.

Wellen. Konnte sie hören, konnte sie spüren. Wippen. Das dumpfe Schaukeln liess mich ausgestreckt liegen. Das Bett unter meinem Ohr dröhnte. Der Stuhl und der Tisch tanzten.
Ich wagte nicht an meine Schmerzen zu denken. Zog meine Hand unter meinem Körper hervor und warf sie weit fort, wo sie mich nicht störte. Ich war unfähig mich zu bewegen. Ich war einfach nur müde. Ich lag benommen auf dem weissen Laken, bewegte mich nicht, schwieg. Und ich konnte endlich dem Denken eine Pause gönnen. Konnte einer Leere und einer damit verbundenen, erfrischenden Langeweile endlich die Tore zu meinem Geist öffnen. Dabei war ich nicht einmal erleichtert. Trägheit hatte mich ans Bett gefesselt.
Lag Stunden so. Schaukelte. Zählte nur die Bewegungen des Schiffes. Der Rhythmus war beruhigend. Bewegte meinen Kopf nicht mehr. Stummer Streik. Passiver Widerstand.
Gegen Gedanken.

Als ich es bis zum Deck geschafft hatte, war es bereits Nacht. Ich stutzte ein wenig. War jetzt heute? Oder gestern? Und mir wurde unwohl, begann zu schwitzen. Eine Cocktailparty, illuminiert von rotem Licht, schien sich auch schon in feuchtfröhliches Gewässer gesenkt zu haben. Ich prüfte das Geschehen nur mit kurzen, klärenden Blicken. Ich suchte nach meiner Marionette. Die Feier schien meinen Kopf zu vernebeln. Sah nur kurze Momente. Verschwommene Bilder. Farben. Ich war nicht betrunken, doch die Gedanken lasteten nicht mehr auf mir. Ich war leer und unfähig mir über meine Leere den Kopf zu zerbrechen. Irgendwo sah ich den Helfer. Alleine an einem Tresen. Sein glasiger Blick deutete darauf hin, dass er abgelenkt war. Er beschäftigte sich sichtlich mit seinen Geschäften, nagte an einem Stift, hatte notfalls ein leeres Notizbüchlein neben sich liegen und gähnte ab und zu. Tödlicher Stimmungsmacher.
„Hast du El Pandora gesehen?“, fragte ich ihn.
Erschreckt und dem alten Mann gleich wurde er jäh aus seinen Gedankenströmen gerissen. Er schaute mich verwirrt an, ich ihn aufdringlich. Er versuchte mich mit bösem Blick zu bestrafen, aber er war immer noch von seinen Geschäften bestimmt, die in seinem Unterbewusstsein herum geisterten. „Ja. Er ist irgendwo auf der Party. Er wollte immer nur allein sein, wahrscheinlich fehlte ihm das tägliche Gespräch mit dir. Ich konnte jedenfalls nichts mit ihm anfangen“
Ich nickte ihm dankbar zu und er wandte sich sofort wieder Wichtigerem zu. Ich rannte durch die Menge. Ab und zu, wenn mir ein Mädchen gefiel, bremste ich meine Schritte ab, doch auf der ganzen Party war El Pandora nicht zu entdecken. Ich verliess das Gedränge, stand an die Reling und überblickte die Feier. Dann verfolgte mein Blick das Geländer, bis es in der Dunkelheit verschwand. Mit mir selbst im Widerspruch suchte ich das Deck ab. Wenn ich es ums ganze Schiff herum schaffte, blieb mir nur noch die Möglichkeit den Helfer zu alarmieren. Die Musik lag in meinem Rücken. Drängte direkt in meinen Hinterkopf. Und von vorne strömte das Geräusch der Wellen entgegen.
Ich umkreiste das Vorderdeck. Blieb am Bug kurz stehen, hielt meinen Atem an und lauschte dem Wasser. Dann löste ich mich widerstrebend aus der Erstarrung. Niemand war da. Keine Marionette. Ich hatte die Fäden aus der Hand gelassen!, versuchte ich mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Aber es war mir egal. Ich war zufrieden.
Als ich die Hälfte hinter mir gelassen hatte, war ich wieder auf der Party. Zwischen wirbelnden Abendkleidern sah ich den Helfer. Als hätte er meinen Blick gespürt, schaute er von seinen Notizen auf. Suchte sich verwirrt. Fand sich überraschend. Dann entdeckte er mich. Wir wechselten einen Blick und seine Miene zeigte sich anschuldigend. Ich lächelte in mich hinein. Versuch du nur meine Gleichgültigkeit zu besiegen. Und ich umkreiste weiter das Schiff. Mit lockeren Schritten und lässigen Gesten tanzte ich mir den Weg durch die Dunkelheit. Einige Fackeln waren entzündet, was auch nur half, das Deck bis zum Geländer zu betrachten. Das Meer aber war vom Dunkel überschwemmt.
Bis zum Heck hatte ich meine Marionette noch nicht wieder gefunden. Doch als ich da ankam, sog ich die salzige Meerluft ein. Eine alte Gestalt, schlanker als El Pandora, lehnte sich übers Geländer. Das graue buschige Haar glänzte im Fackelschein. Unser alter Bekannter. Der Typ von der Bar. Der Weise mit der alles erschliessenden Antwort. Er schien mich nicht bemerkt zu haben, rührte sich nicht. Die Ruhe selbst. Ich trat neben ihn. Er warf mir einen überraschten Blick zu, doch er fasste sich sehr schnell. Tat, als wäre ich nicht da. Und ich seufzte über diese Durchschaubarkeit. Er schaute in die Ferne. Oder in die Nähe. In die Schwärze, die endliche Unendlichkeit. Und trotzdem war er nicht da, wo er war. Und auch nicht da, wo er hinblickte. Er war irgendwo im Kopf. Weit weg. Bei Antworten, die ich mir wünschte.
„Könnten Sie das wiederholen, was Sie mir sagen wollten, da an der Bar? – Sie wissen schon.“
Er schaute mich an. Sein Blick war verschleiert. Sein Auge mit einer Träne bestückt. Auf einmal hatte ich den Drang diese Träne zu fassen. Hatte das Verlangen diese Perle zu erwischen und ich klemmte meine Hand zwischen das Geländer und meinen Körper, damit ich nicht etwas Falsches täte.
„Haben Sie meine Frau auf der Feier gesehen?“, lenkte er ab.
Ich kratzte mich am Kopf. Ich wusste noch nicht mal, was gefeiert wurde. Und ich wusste nicht, dass er eine Frau hatte.
„Es tut mir Leid, ich mag mich nicht erinnern.“
Er schaute mir kurz in die Augen, nickte dann.
„Besser so.“
„Wieso – Wieso sagen Sie das? Ich dachte, sie hätte Ihnen ein Geburtstagsgeschenk gemacht? Woher rührt der Missmut ihrer Frau gegenüber?“
Und ich durchsuche Erinnerungsschränke. Schublade um Schublade, suche nach Möglichkeiten, wie ich einen kleinen Teil meiner Welt wieder verstehen konnte. Ich dachte an alle Szenerien, wie sich zwei wahrscheinlich schon lange verheiratete Menschen nicht mehr verstehen könnten.
Sein Gesichtsausdruck zeigte sich nicht begeistert davon, mir seine privaten Beziehungen anzuvertrauen. Ich wunderte mich ein wenig darüber, denn mir kam es vor, als kannten wir uns schon gut, gut genug. Schon lange. Und ich vergass, wie fremd wir uns waren. Tabu gebrochen. Diskretion überbrückt. Menschliche Moralvorstellungen in den Grundfesten erschüttert. Doch es war mir alles egal.
Er seufzte leise.
„Hatten Sie schon einmal das Gefühl ausgenutzt zu werden? Ach was, bestimmt! Aber nicht in meinen Verhältnissen. Meine Frau nutzt mich aus. Was sage ich – die ganze Welt nutzt mich aus! Das Geschenk war Berechnung. Sie schenkte es mir, damit ich mein Erbe doch antrete.“, er sah meinen verständnislosen Blick, „Mein Vater hat mir eine Diamantenmine in Afrika geschenkt. Sie war oft ertragreich, aber ich und meine Geschwister haben beschlossen, sie einzustellen. Sie war Ausbeuterei der Arbeiter, ausserdem hatte sie nur Verderben über die Familie gebracht. Ach, das ist eine andere Geschichte. Meine Frau will jetzt um jeden Preis mit diesem Schiff nach Afrika reisen um die Arbeit in der Mine wieder aufnehmen zu lassen. Deshalb hat sie mich auch auf dieses Schiff gebracht. Weil es ein Geschenk war, konnte ich es natürlich nicht ablehnen. Ich wusste noch nicht einmal wohin es gehen sollte, als sie mir noch so freundlich eine Überraschungskreuzfahrt anbot.“ Er seufzte erneut. „Meine Frau ist geldgierig. Nehmen Sie sich vor solchen Menschen in Acht. Nichts ist ihnen lieb.“
Er stieg auf das Geländer und streckte die Hände nach der Dunkelheit aus. Ich lachte überrascht, fand es belustigend. Ich war wohl doch noch etwas berauscht. Auf dem Gesicht des Mutigen deutete sich ein bitteres Grinsen an.
„Sagen Sie meiner Frau, dass ich sie liebe. Irgendwie.“
Diese Worte klangen abschliessend, verboten jeden Einwand. Es waren mächtige Worte. Und ich war überrumpelt von dieser plötzlich neuen Situation und lachte wieder verwirrt. Es war mir unheimlich, aber ich kicherte trotzdem. Mir war alles egal.
Er überlegte kurz. „Ach ja, Sie wollten doch noch wissen, wieso, dass manche Menschen nie mit der Welt zufrieden sind.“ Ich horchte auf. „Weil sie die Wahrheit erkannt haben.“
Ich spürte, dass das nicht die wirkliche Antwort war. Sie durfte es nicht sein. Sie befriedigte mein Unwissen nicht. Es klang spontan und unüberlegt und ich schaute den alten Mann prüfend an.
„Sie müssen es mir ja nicht glauben“, sagte er mit einem Achselzucken, ehe er sich vom Geländer ins dunkle Wasser stürzte. In die tiefe Ewigkeit. Ich hörte seinen klatschenden Aufprall und sein Keuchen angesichts des kalten Wassers. Ich lehnte mich ans Geländer und musste ein wenig nachdenken. Ich hätte die Schiffsmannschaft holen können. Ich hätte um Hilfe rufen können. Das hätte der Mann auch wissen müssen. Und ich spannte die Muskeln an. Erwartete man etwas von mir? Er musste doch annehmen, dass ich ihn da herausholen würde. Doch ich lehnte nur ruhig ans Geländer und wartete. Mein Gewissen versuchte mir dringend etwas zu sagen. Dass ich ihm helfen sollte wahrscheinlich. Doch es war nur ein Flüstern. Etwas anderes ärgerte sich über die falsche Antwort, die mir der alte Mann schlussendlich gegeben hatte und äusserte sich deutlicher. Ich hatte einen Gram auf diesen lässigen Umgang mit meinen Gefühlen und Prioritäten, er schien nicht gewusst zu haben, wie viel mir das bedeutet hatte.
Ich hörte, wie er davon trieb. Schnell verschwand er im Dunkeln. Mit jeder Sekunde war er weiter weg. Ich musste ihn jetzt retten! Gleich war er für immer verschwunden.
Doch es war mir alles egal.
Und ich trat unbekümmert vom Geländer weg und setzte meinen Gang fort. Hoffentlich würde ich meine Marionette irgendwo finden.
Die Party erschöpfte sich bereits. Es wurde kalt auf Deck und die Leute zogen sich zurück. Und endlich sah ich El Pandora. Er stapfte von der Aussichtsplattform hinunter und zündete sich gerade eine Zigarre an. Das Glühen verschwamm in der Menge der anderen Lichter. Ich hielt auf ihn zu, bereitete mir die ersten Sätze vor. Als ich vor ihm angekommen war, hatte er die Treppe hinter sich gebracht. Ich wollte meine Sätze aussprechen, doch ich sah, dass er mir nicht zuhörte. Ich sprach trotzdem, aber ich hörte mir selbst nicht zu und ich fühle mich nicht im Stande das nun auch nur inhaltsgemäss wiederzugeben. Doch statt weiter zu schweigen, und mich wie so oft in betretener Stille sitzen zu lassen, wandte er sich plötzlich mir zu und musterte mich.
„Ich habe letztens einen alten Mann gesehen. Weisse Haare. Er befindet sich mit seiner Frau auf dem Schiff, soweit ich weiss.“, er starrte mir in die Augen, „Hast Du ihn gesehen?“
Mein Mund wurde trocken. Ich begann zwar zu schwitzen, aber es war mir nicht unwohl. Es war, als hätte mein Unterbewusstsein Überhand genommen. Ich kam mir animalisch vor. Spürte die Einfachheit meiner Gedanken. Wären wir doch alle dumm.
„Nein, tut mir Leid“, antwortete ich, bevor ich mir Gedanken machen konnte, bevor ich auch nur reagieren konnte. Ich hatte mich selber überrumpelt. Diese Art von Törichtsein war nicht dasselbe, wie die Dummheit, von der ich immer geschwärmt hatte. Ich hatte eine unbiegsame Gleichgültigkeit in mir. Einen Stock in meinem Körper, und alles ging in die Knie vor ihm. Niemand wagte den Widerstand zu brechen, ich selber nicht. Es war eine wunderbare Freiheit, die ich in diesen Momenten lebte und ich wollte nicht wieder zurück. Nicht wieder unter „die Herrschaft des Körpers“.
Also liess ich mich treiben. Auf dem ewigen Meer der Gleichgültigkeit. Es ist mir egal, es ist mir alles egal!, jauchzte mein Geist.
Und El Pandora verzog seine Fratze nur zu einem Lächeln und sagte: „Kein Problem, kein Problem“ Jetzt begann er sogar zu lachen. Er verstrubbelte mein Haar und in seinen Augen glänzte väterlicher Stolz. „Einverstanden!“
Mir war es unerklärlich, doch die Neugierde in mir war nicht zu stark, trotzdem war es unheimlich und deshalb suchte ich halbherzig nach dem Grund für sein Verhalten. Die Situation war mir vollständig entglitten, wie noch nie. Und ich freute mich darüber. Ich sandte meine Blicke in alle Richtungen aus und da erkannte ich es – die Aussichtsplattform.
Er hatte alles beobachtet. Seine Prüfung bestanden. Er wusste, dass der alte Mann vorhin gestorben ist, oder möglicherweise immer noch an diesem vollendenden Prozess war. Und die Situation war mir noch unheimlicher als vorhin. Wieso hatte meine Marionette so einen Gefallen daran?
An meinem – Mord?
Ich versuchte verzweifelt mein Gehirn zum Denken zu bewegen, doch es sprang nicht an. So hatte ich keine Wahl. Ich musste mich aus Gesprächen raushalten, ich lief Amok mit meiner Vernunft. So entschuldigte ich mich bei meiner Marionette und schritt hinunter zu meiner Kabine. Ich musste schlafen. War eine Gefahr für die Welt und für mich selbst.

2 Antworten zu „Marionettenkönig”.

  1. Wahrscheinlich willst du es nicht hören, aber ich finde das nach wie vor einen der besten Texte von dir. Kurzum: er hat mich damals so beeindruckt, dass ich mich selbst unbedingt verbessern wollte.
    Und ja, mit 15 war ich noch meilenweit davon entfernt, sowas wie das hier schreiben zu können. (Was nicht heissen muss, das ich es jetzt kann 😉 ).
    Hat mich alles sehr inspiriert. Ich wünschte, du könntest es irgendwann zu Ende bringen. Aber man kann ja nichts erzwingen:)

    (Y)

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