Die Elixiere des Teufels / Lebens- Ansichten des Katers Murr. by E.T.A. Hoffmann
My rating: 4 of 5 stars
Ein-Satz-Review
Mein Vater: „Ein Monster von einem Buch“, „völlig formlos“ – mein Freund: „irgendwie uninterpretierbar“, der „Prota trifft nur auf sich selbst“ – meine Meinung! und wie geil!
Auf einer Bank unter einem Birnbaum sitzen zwei Männer. Beide lesen, einer lacht. Sie tragen täglich frische Anzüge und schlagen die Beine übereinander. Der Lachende kommt meist am späten Vormittag und klappt sein dickes Buch auf. Er schmunzelt, manchmal geschieht es früher, manchmal später, aber immer im Laufe der Lektüre. Das Schmunzeln breitet sich auf seinem rasierten Gesicht, während seine Augen über die Seiten fliegen, Zeile für Zeile weiter aus, bis es schliesslich zum Grinsen wird, das den baldigen Ausbruch seines hellen, durch den Park fliehenden Lachens ankündigt.
Sein Nachbar zur Linken ist oft schon am Morgen da und liest unbewegt. Nur selten spitzen sich seine blassen Lippen und entspannen sich wieder nach wenigen umgeschlagenen Seiten. Er bleibt nachmittags eine halbe Stunde alleine dort, bevor er nach Hausegeht.
Der Lachende sucht den Blick der Umstehenden, vielleicht um sich zu entschuldigen oder um sich zu erklären. Der Stille schielt knapp über den Buchrücken, erwidert seinen Blick, zieht die Mundwinkel bekräftigend nach oben und fährt mit dem Lesen fort.
»Entschuldigen Sie«, rief der Lachende unter Tränen. »Ich störe sie immer.«
»Überhaupt nicht«, versetzte der andere und las weiter.
Der Lachende verstummte höflich und sah seinen Nachbarn neugierig an. Eine Weile beobachtete er, wie dessen Blick stumm über die Buchstaben glitt, ohne die geringste Regung auf dem Gesicht zu zeitigen.
»Entschuldigen Sie meine Frage: Aber was lesen eigentlich Sie?«
Der Stille klappte das Buch zu und verdeckte es mit der anderen Hand. »Nichts besonderes«, sagte er.
»Ach?« Der Lachende überlegte sich, ob er von seinem Buch erzählen sollte, aber der andere sah ihn kühl an, und er wollte nicht wie ein alter Mann wirken, der unaufgefordert aus seinem Leben ausplauderte. Er verabschiedete sich am Nachmittag und der Stille lächelte zum Abschied. Eine Woche später sassen sie wieder auf der Bank und wieder lasen zwei und einer lachte.
»Lesen Sie immer noch das gleiche Buch?«, fragte der Lachende, nachdem sein lautes Johlen verebbt war.
»Ja, ja.«
»Immer noch den Novalis?«, denn er hatte beim letzten Abschied auf den Umschlag gelinst, und den Titel Autor erkannt.
Der andere ruschte auf der Bank hin und her. »Ja…«
»Sie lesen seit einer Woche dasselbe Buch?«
»Ja…«
»Oder lesen Sie es erneut?«
»Ja…«
Der Lachende hatte sein Buch zur Seite gelegt und lehnte sich mit dem ganzen Körper hinüber, dem Stillen auf den Leib rückend. »Und immer noch die gleiche Seite? Oder habe ich ihr Blättern übersehen?«
»Eigentlich lese ich gar nicht darin«, erwiderte der andere, unangenehm berührt..
Der Lachende machte ein verblüfftes Geräusch. »Sie lesen gar nicht im Buch?.«
Einige Sekunden druckste der andere herum und gestand dann: »Ich lese in Ihrem Buch.«
»In meinem — ?«
»Ich lese nie in meinem Novalis.« Er diene nur als Ablenkung, wenn er in den Büchern von anderen lese. Es sei immer etwas Neues dabei und spare Bibliothekskosten. »Ausserdem interessierte mich, was Sie so lustig finden..«
»Sie haben aber nie gelacht«,stellte der Lachende, nun ernst und nachdenklich, fest.
»Nun ja«, sagte der Stille, »so einer bin ich nicht.«
Die Zukunft des Mars by Georg Klein
My rating: 4 of 5 stars
Ein-Satz-Review
Auf den ersten Blick ist diese Geschichte — quasireligiös im Erklärungsmangel und sprachlich in sperrigem Ton gezimmert — ein Rückfall zu einer Primitivität der postapokalyptischen Erzählung, die das Wilde, zu dem sich die vormalig russische Kolonie und heute völlig verwahrloste Marsbevölkerung hingezogen fühlt, naiv zelebriert, und es fällt erst im Laufe der Lektüre das Zeitgemässe und Versponnene daran auf, das in der Überspitzung der Kommunikation zu finden ist: Lange nach dem Zusammenbruch des Internets auf der Erde ist der Versuch einer Aufrechterhaltung von Ferngesprächen mit dem Don-Phon ebenso schwierig wie die Sprachvielfalt, die in dieser Post-Globalisierung aufkommt, dennoch ist dieses ‚kommunikative Nicht-Handeln‘ durchbrochen vom Dialogischen Terrorismus und von Bruderbanden, die durch das ganze Buch als genealogische Anker verstreut sind und einen religiösen Anspruch vorzubringen scheinen („Dialogische Brüder“ der Terroristen; verblüffend ähnliche Zwillinge der beiden Opa Sprithoffer; Zwillinge auf dem Mars, die nur für einander verständliches Brabbeln von sich geben; sowie die politischen „Brüder“: Der weisse Khan, Der Alte Ogo und Don Dorokin), und es zeigt sich ein Zukunftsentwurf, in dem der Kommunikationsteilnehmer in der Kommunikation völlig aufgegangen und überflüssig geworden ist — wie Freund Mockmock, der aus dem Innern des Mars hervorbrechende Lebensspender, der ein Kollektiv von einzelnen kleinen Kugeln mit Beinchen ist, vaporisiert die Menschheit in ihrem Verschwistern in einem grossen, überindividuellen, erlöserbildartigen, leblosen Ganzen.
Fahrenheit 451 by Ray Bradbury
My rating: 2 of 5 stars
Ein-Satz-Review
Eine optimistische Antwort auf 1984: Auch ein totalitärer Staat mit unverständlichen Kriegen, auch Bespitzelung und Verleumdung, auch das Revidieren der Vergangenheit durch die Auslöschung der Literatur, nur diesmal nicht durch den totalitären kommunistischen Staat, sondern durch die totalitäre kapitalistische Wirtschaft, diesmal nicht aus reinem Selbstzweck der Macht, sondern des Spasses, diesmal nicht hoffnungslos: hier wird Beatty – das Monster des Intellekts, die Verkörperung des Relativismus – getötet, während dort gegen dieselbe Gestalt (mit Namen O’Brien) nichts mehr ausgerichtet werden kann.
1984 by George Orwell
My rating: 4 of 5 stars
Ein-Satz-Review
Man hat mir gesagt 1984 handle von einem grausamen System, doch man hat mich angelogen, es handelt von anderem, vom Sieg der Philosophie über die Praxis, von der Totalität des Relativismus, von der Macht der Macht, der Stil ist schlank, die Geschichte nicht ohne Ironie, aber nicht grausam: Das System ist grausam für jene, die an die Grausamkeit glauben wollen — und doublethink ist nur die Perfektion des Denkens, die nicht alle erreichen; man muss von 1984 als einem optimistischen Buch denken.