Dieser Text ist zuerst auf www.delirium-magazin.ch erschienen.
This is a happy essay.
Wenn die Leute mich fragen: Wie machst du das immer, Cédric? Wie hast du das wieder geschafft? Dieser Preis, diese Idee, zwanzig Biere in einer Woche? Dieser Roman, den du nicht einmal geschrieben hast? Dann antworte ich mit einer an Stumpfsinn grenzenden Bescheidenheit:
«Ich schreibe seit 17 Jahren, weisst du, ich schreib mein Zeug gar nicht mehr, ich nehm alles aus dem Kopf, ich kann das usw.»
Aber es fragt ja keiner. Niemand fragt, wenn man allein in seinem Zimmer sitzt, vor einem Pult, austariert wie eine Folterbank, mit schräggestellter Tischplatte, einer mechanischen Cherry-Tastatur und zwei Bildschirmen drauf, auf dem links Scrivener und rechts die Evernote-Recherche geöffnet ist, – und vom entsetzlichen Licht angeleuchtet wird, das trotz Blaustichfilter die Tränen ins Gesichtchen treibt.
In The Talent of the Room schreibt Michael Ventura über die Grausamkeit dieser Folterkammer, die das Schicksal einer Schriftstellerin bestimmt: «Writing is something you do alone in a room. […] How long can you stay in that room? […] How many years – how many years – can you remain alone in a room?» Diese vier Wände und dieses Licht aushalten, und die Einsamkeit und Angst und Dauer ausstehen, die über einen herfallen; es ist das einzige Abenteuer des Schreibens.
Im Raum, in dem man schreibt, auch leben zu können, ist je nach Budget unumgänglich, aber das Eigenleben dieses Raums darf man nicht unterschätzen: Der Boden meiner 30er-Jahre-Wohnung liegt schräg, und mein Bürostuhl rollt auf die Tischplatte zu, um meine Brust einzuquetschen. Unter dem Kleiderregal wachsen Büschel von Staub, die eine Art von Lebewesen konstituieren, und wenn ich die Fenster öffne, kann ich zwei Kirchenglocken gleichzeitig hören, und die Pollen dringen ins Zimmer, die meine ohnehin tränenden Augen zur Entzündung reizen.
Schreiben auszuhalten ist nicht schwieriger als Wohnen auszuhalten – «Wohnen empfinde ich als Belastung» –, aber wenn die Tränen mir den Blick verwischen, bis ich die eigene Kurzgeschichte nicht mehr lesen kann, spüre ich plötzlich, dass ich seit sechs Stunden nichts gegessen habe und während ich durch die Unordnung zu meinem Kühlschrank stolpere, wird mir schmerzhaft bewusst, dass in dieser Wohnung von allem, was sich drin befindet, ich am allerwenigsten lebe oder gedeihe, dass ich zumindest nichts hier bewohne, dazu fehlt mir das Talent.
Und dann habe ich kein Brot, nur Aufstrich, und ich schlüpfe in eine Trainerhose, von der ich erstaunt bin, dass sie bereitliegt, und wühle in den Hosentaschen wie in einem fremden Leben, um Geldnoten knautschend zum Albisriederplatz zu torkeln.
Die günstige Leserin sollte sich ein Bild vom Albisriederplatz gemacht haben, um zu verstehen, was es bedeutet, ihn nach Stunden der Einsamkeit zu queren: Eine halbe Agglomeration wird auf einer Strasse um einen Kiosk herumgeführt, der von Tramgleisen durchschossen ist, denn es ist ein Naturgesetz, dass alle Plätze in Zürich von Strassen umgeben sein müssen wie Inseln. Er ist laut und sauber und voll glänzender Kühlerhauben. Überquert man diesen Platz findet man in der teuersten Stadt der Welt auch eine Bäckerei, in der ich mein Brot kaufe, während alte Menschen, die an ihren Kaffees nippen, auf meine fleckige Trainerhose starren.
Als ich, noch aufgelöst von der stockenden Kurzgeschichte, das Café Bauer betrete, schlägt mir ein Dunst aus Sweet & Sour entgegen. Seit zwei Jahren teilt die Bäckerei grosszügig ihren Platz mit Suan Long, der europäisch verstümmelten Mulan™-Version von Zeichentricksoya. Hier hole ich mir spätabends manchmal meinen abgepackten Fried Rice oder die Interpretation einer glücklichen Ente, und kenne die Nummern der Mahlzeiten auswendig, weil ich mich mit den polnischen Kellnerinnen vor einigen Jahren auf diese verständigen konnte.
Aber an diesem Morgen biege ich nach rechts in den Nebenraum ab, der die Dunstwolke mit einer automatischen Schiebetüre aussperrt, und bestelle an der grossen Theke ein 4-Korn-Chia-Brot. Neben mir sind andere Kunden, ältere Stammgäste und jüngere Hipster, die lächelnd im Raum stehen und die Atmosphäre geniessen, gruppiert um einen Tresen aus Glas, hinter dem das Gebäck treibt.
Der Effekt von gutem Brot auf ein solches Publikum ist gross, denn zwischen Coop und Migros verströmt dieses Geschäft noch den Traum echt deutscher Backkunst, die mehr noch als Goethe und Schiller ein uneinnehmbares Bollwerk gegen die vorgeschnittenen, in Brotschneidemaschinen geschändeten aufgedunsenen Toastscheiben der skandinavischen Länder, die dünnen französischen, betulichen, weissmehligen, ins Blätterteigchen neigenden Gebäcke, gegen die Leider-keine-Pizzas Italiens und die gummiartigen Brotsimulakra aus England bilden.
«Ich würde meine Kreativität tauschen. Gegen – äh – Geld.» (Edgar Wasser, Nahmean)
Goethe, Brot, deutsche Kultur: Es gibt nur Weniges, auf das man sich verständigen kann. Ich hole meine Geldnoten hervor, um damit das Chia-Brot zu bezahlen, und sehe, dass es gar kein Geld ist, sondern nur eine Quittung und zwei Notizen, die ich hastig mit genialen Ideen vollgekritzelt habe. Ich beginne zu schwitzen und merke, wie die Leute in der Nähe berührt wegschauen.
Die Quittung ist eine Woche alt, die Notizen aber sind frisch. Eine ist frühmorgens nach einem langen Gespräch entstanden und enthält vielleicht meine Idee oder die eines Freundes (daran kann ich mich nicht erinnern), die andere ist ein Titel für die Kurzgeschichte, an der ich mich abquäle: Die Sprengung des Riesenkraken vor Durbans Küste. Vielleicht ist sie noch nicht verloren, es haben sich schon ein paar Absätze aufgereiht, aber das Tempo misslingt, alles geht zu schnell, ausser bei den zusammenhangslosen Szenen, wie bei jener, in der die Geisterrikscha unmotiviert auftritt.
Vielleicht, wer weiss, machen diese Ideen mal richtig viel Geld. Eine Kurzgeschichte hat mir mal einen Preis von 10’000 Euro eingebracht. Eine andere 1’000 Franken, eine Handvoll noch ein paar Büchergutscheine – mein Gott, ich habe Büchergutscheine! –, und dann gibt es die, die nichts einbringen, von einer Veröffentlichung in einem obskuren Magazin abgesehen, oder nicht einmal das. Es ist schwierig abzuschätzen.
Die Verkäuferin sieht mich mitleidig, aber lächelnd an, sie hat etwas von einer Bibliothekarin mit ihrer Brille. «Darf es sonst noch etwas sein?», fragt sie höflich, um mir Zeit zu verschaffen, damit ich doch noch eine Karte oder Geld in meinen Trainerhosen auftriebe.
Und ich überlege mir, wie ich dieser Person den Wert meiner Notizen begreiflich machen kann, ohne mich lächerlich zu machen, aber es wäre lächerlich, denn ich muss die Geschichte zur Idee ja noch schreiben. Ich muss ja alles noch verwerten.
Aber was würde es überhaupt heissen, dass ich die Ideen noch aufschreiben müsste, bevor sie etwas wert sind? Ich wünschte, ich wüsste das. Manchmal bedeutet es nur, sich in den Room zu setzen und nach zwei Stunden lächelnd herauszutreten, mit vier preiswürdigen Seiten in der Hand. Manchmal bedeutet es, wochenlang zu verschwinden, keinen Appetit zu haben, einen Selbsthass auszubilden und niemals etwas zustande bringen.
Oder einen Bäckereiüberfall? Ganz ehrlich: Ohne ihn hätte ich mit dem ganzen Schreiben vielleicht nie begonnen. Eigentlich waren es beide, der Bäckereiüberfall 1 und der Bäckereiüberfall 2, zwei Kurzgeschichten von Haruki Murakami, die ich mit 13 ohne tiefere Absichten gelesen und seit denen ich nicht mehr zu schreiben aufgehört habe.
Im Bäckereiüberfall 1 beschliessen zwei ausgehungerte Studenten, eine Bäckerei zu überfallen. Man erfährt nicht, warum sie hungern, wer sie sind, wie sie aussehen. Sie kommen aus einer weissen, abstrakten Fläche, wie lieblos erfunden, aber als sie die Bäckerei betreten, switcht alles zum Hyperrealismus: Vor ihnen steht eine alte Frau in der Schlange, sie sehen zu und beschreiben, wie sie Essen auswählt, es aufs Tablett legt, es wieder zurückschiebt und sich doch entscheidet. Und als die Räuber an die Reihe kommen, haben sie sich so in ihr kriminelles Vorhaben verbissen, dass sie erst dem Bäcker drohen, dann aber, als er ihnen sein Brot freigiebig anbietet – er sei Sozialist –, auch nicht nachgeben können. Sie seien hergekommen, um zu überfallen, jetzt müsse auch etwas passieren. Der Bäcker schlägt vor, dass sich die beiden Räuber eine Stunde Wagner anhören müssten, weil sie Wagner hassten. Sie stimmen zu. laborare – leiden, arbeiten: austauschbar. Und der sozialistische Bäcker, der ohnehin sein Brot teilen wollte, ist auch glücklich.
Dass man aus einem schlechten Witz eine Erzählung machen kann, die so wild an allen Kanten auseinanderbröselt, hat mir imponiert: Es ist ein Umgang mit Text, der ein Weg vorbei war an Dringlichkeit und bedeutungsvollem Schreiben, und ich habe die Pointen imitiert, kälter, knapper und stumpfsinniger als Murakami. Ich glaube, das lehrte auf eine brutale Art Spass am Schreiben, weil es eben keins war, das man rechtfertigen konnte, ausser als blöden Witz.
Schreiben war – in der Agglo, im Gymi, wo es galt, allen zu imponieren oder wenigstens nicht unterzugehen, und unter der ständigen Gefahr, aus der Schule geworfen zu werden – das Sinnloseste überhaupt. Videospiele hatten noch einen sozialen Aspekt, Sport war gesund, aber Schreiben war die dümmste Sache, der, weil man es ja nie gut genug kann, keine Rechtfertigung genügte. Daran hat sich nicht viel geändert. Ausser der sogenannten Professionalisierung, die sich an der Hochnäsigkeit zeigt, mit der man Bücher in die Hände nimmt, und dem Kalkül, mit dem man auf Facebook postet, die den Raum aber kein bisschen angenehmer macht.
«without delirium and confidence, capital could not function» (Mark Fisher, Capitalist Realism)
Ich habe einige der erfolgreichsten Schriftsteller_innen der Schweiz gesehen, die in ihren Portemonnaies wühlen, wenn sie überlegen, nach der Lesung mit den Veranstaltern eins trinken zu gehen. Mark Fisher hat das Unbehagen der «expenses entropy» zugeschrieben, weil man als Freelancer nie wisse, was eigentlich vom Veranstalter übernommen wird und was nicht. Das Taxi? Das Abendessen? Nur das Hotel? Die Kostenrechnung breitet sich wie ein ausgeworfener Blätterteig über alles aus.
«To date, counting my MFA, workshops, and consultations, I’ve spent $44,995 on my writing life. I sold my first novel for $10,000. That’s $5,000 upon signing, another $5,000 once it’s published, and an additional $1,000 for recording the audio book», schreibt Melissa Chadburn in ihrem famosen Essay This Wanting Business. On the Cost and Labor of Writing. «I’m hearing a lot these days that I ought to avoid the word “poor,” that poor doesn’t trend well. That people don’t identify as poor. Every year there’s a study, and, regardless of income, we all identify as middle class.»
Manche Autor_innen weigern sich, ohne Honorar für delirium zu schreiben, und Kulturförderstellen möchten uns kein Geld geben, solange wir die Autor_innen nicht bezahlen: Lieber ein Magazin zugrunde gehen lassen, als die Löhne einer prekären Branche noch weiter zu drücken, Prinzipien sind hier Überlebensinstinkt – «without delirium and confidence, capital could not function». Ich will das hier gar nicht verurteilen, jede_r muss (von etwas?) leben. Interessant wird es bei der Frage, wie man sich die Sache verkauft. Warum soll man mit Schreiben seine Brötchen verdienen können?
Manche zum Beispiel behaupten, Schreibende seien «im Verkauf ihrer Arbeit das perverseste Produkt der Kapitalwirtschaft.» Sie verkauften «mit jeder ihrer Arbeiten auch denjenigen persönlichen Anteil, der jeder kreativen Arbeit angehört: die eigene Originalität der Erfahrung, der Wahrnehmung und der Sprache. SchriftstellerInnen verkaufen ihr Selbst.» – was mich an die Behauptung erinnert, unser aller «Ausverkauf privater Daten» an Alphabet, Facebook, Apple und Amazon sei ein Problem. Denn, lustig: Vor 20 Jahren wusste noch niemand, dass er seine Daten verkaufen kann, dass er durch seine blosse, nichtige Existenz Geld und Arbeit schöpfen und sich zukünftige Technologien früher besorgen kann, und die Reaktion auf Unverdientes ist, dass man das Privileg gleich zur Bürde macht. So gross ist die Angst vor Unverdientem, dass man lieber leidet, um es zu ertragen, und zusammen Wagner hört.
Aber wie praktisch für Schreibende! Das Selbst verkaufen können. Die eigene Wahrnehmung, Erfahrung, Sprache verkaufen können – wieviele Menschen müssen sich mit dem Gedanken abfinden, dass sich niemals irgendwer dafür interessieren, geschweige denn Geld dafür aufwerfen würde? Zumal es die Schriftsteller_innen sind, die mit geschickten Kniffen aus dem Selbst etwas Verkaufbares gemacht haben, indem sie es inszenierten, veräusserten, in Konkurrenz stellten.
Wenn es das «perverseste Produkt der Kapitalwirtschaft» ist, dann pervers praktisch.
«It is not from the benevolence of the butcher, the brewer, or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest.» [1] (Adam Smith, The Wealth of Nations)
«Es tut mir leid, ich habe das Portemonnaie vergessen», sage ich.
«Kein Problem, ich kann es Ihnen zurückstellen.» Sie blinzelt sogar wie eine Bibliothekarin.
«Ja bitte, ich muss nur kurz nach Hause», sage ich, bleibe kurz in der Tür stehen in der Hoffnung, sie würde mich zurückrufen und mir Wagner vorspielen oder sogar Sigur Rós, und renne über den Albisriederplatz, während ich von allen Seiten von Autos torpediert und in der Mitte von einer Tram aus meinen Gedanken geklingelt werde. Unter meinem verschwommenen Blick sehe ich nur graue Flecken. Ich passiere einen versonnenen Yogalehrer im Bullingerhof, dessen ausgeglichenes Gesicht mich kurz entsetzt, und komme zu Hause an.
Als ich die Tür zur Wohnung aufstosse, stolpere ich über meine eigenen Schuhe und mein Blick fällt auf ein kleines Büchlein auf dem Couchtisch, das mir jedesmal ein Lächeln ins Gesicht knallt, wenn ich es sehe. Der beste Titel in diesem Jahr geht an Julia Mantel, ich habe ihr Buch seinetwegen bestellt, Lyrik, es überzeugt mich nicht ganz, aber: Der Bäcker gibt mir das Brot auch so ist so ein 1-in-10’000-Titel, so etwas fast für die Ewigkeit, weil es perfekter nicht geht. Der Bäcker, von dessen Wohlwollen man laut Smith gerade nicht abhängig sei, um für das Abendessen zu sorgen, aber von dessen Selbstinteresse… – dieser raue, hart arbeitende Bäcker – gibt mir das Brot auch so! Was für ein Punk.
Eigentlich schreibe ich auch heute, viele Jahre nach den Bäckereiüberfällen, nichts wirklich Sinnvolles und Ideen habe ich auch keine, mit Ausnahme von «lustigen» Titeln – Residuen des Witzelns –, zu denen ich mir dann die Geschichten aus den Fingern quäle, und es gibt eine Liste all derer, aus denen seit Jahren nichts geworden ist und die mich durch den Raum hindurch auf zerknautschten Zetteln anstarren. Die Titel sind das Wichtigste überhaupt (aber Julia Mantel hat diese Trophäe schon nach Hause gebracht).
An manchen Abenden, wenn der Selbsthass wieder zuschlägt, setze ich mich hin und zwinge mich, eine dieser Ideen zu verwerten, also einen lustigen Titel mit Inhalt zu füllen, wer weiss, was dabei rausspringt? Le titre, die Titrierung, der Wertgehalt einer Münze, Derrida hat darüber alles gesagt, denn «die Theoretiker der Postmoderne haben schon genügend Text produziert.» (Im besten Fall: es hilft.) Und an solchen Abenden breitet sich die Wucht des Raums aus, indem er mir sein schreckliches Geheimnis verrät. Dass nämlich in ihm nie etwas stattfinden wird. Schreiben bedeutet, nichts zu erleben. Freunden abzusagen, drin zu sein, zumindest für die Stunden des Schreibens (und das gilt auch fürs Lesen, teure Leserin, auch wenn es schneller geht). Derrida nannte das die Temporisation des Zeichens (danke dafür!), der Aufschub der Präsenz durch das Zeichen:
«Ob es sich um mündliche oder schriftliche Zeichen, um Währungszeichen, um Wahldelegation oder politische Repräsentation handelt, schiebt die Zirkulation der Zeichen den Moment auf (diffère), in dem wir der Sache selbst begegnen könnten, sie uns ihrer bemächtigen, sie verbrauchen oder verausgaben, sie berühren, sie sehen, eine gegenwärtige Anschauung von ihr haben könnten.» [2]
Und es bleibt nicht viel anderes übrig, als die Bürde der Opportunitätskosten zum Privileg zu machen, in ihnen eine Form der Arbeit zu sehen, die gerade darin besteht, das Leben zu verpassen – etwa so, wie Wagner zu hören. Daher der Gedanke: Für all die Einsamkeit habe ich Lohn verdient. Und über alle lebenswerten Abenteuer, die sich vor dem Fenster in der Aussenwelt abspielen, habe ich mir meine arrogante Meinung gebildet: Man kann auch einfach nicht hiess der Titel meines ersten Erzählmanuskripts, eine Sammlung der schlechten Witze, die nie erschienen ist.
Der Bäcker gibt mir das Brot auch so enthält ausserdem mehr utopische Gestaltungskraft für eine europäische Linke als achtzehn Jahre Aufmucken gegen die Clinton-Schröder-Blair-Walze und ist die weibliche und weitaus coolere Variante eines Sisyphos, den man sich laut einem Mann als glücklichen Mann vorstellen muss. In dieser Variante muss sich Sisyphos – praktisch – nicht an seiner Tätigkeit aufgeilen. Und – pervers praktisch – man muss sich ihn nicht einmal vorstellen. Man kann auch einfach nicht: Der Bäcker, der alte Knabe, gibt mir das verdammte Brot auch so.
Geschenkt von meiner Seite:
Allgemeines Zähneputzen
Schutz und Rettung
Der Einbauschrank
Das Pferd des Pförtners von Curacan
Alles zuhause vergessen
Der Kinderwagen
…
«brotlos bin ich / brustlos nicht» (Julia Mantel, Der Bäcker gibt mir das Brot auch so)
Schon aufgefallen, dass nur Frauen in der Bäckerei arbeiten, aber immer von Bäckern die Rede ist? Möglich, dass der roswangige, hochgeschossene Bäcker zu unserem Bild von argloser Wirtschaftlichkeit besser passt. Gesehen habe ich ihn trotzdem noch nie.
Erstaunlich ist auch, dass dieses Magazin, das den Kurzbiografien und Selbstdarstellungen der Autor_innen-Persönlichkeit abgeschworen hat, um eine gleichberechtigte Schreibplattform zu schaffen, und für viele Jahre sein Heft kostenlos verteilte, auf einen Artikel wie «Für mehr Literaturförderung!» nicht stärker reagiert hat. Dort fordert Carlo Spiller, die Schreibexistenz müsse akademisch legitimiert sein: «Gerade dieses Qualitätssiegel zu vergeben, sollte auch zu den Aufgaben der Universitäten gehören» – und nicht von Publikum oder «Gremien» bestimmt werden.
«Denn wie die besten Artikel in den besten wissenschaftlichen Fachzeitschriften für das breite Publikum grösstenteils unverständlich sind, sind die besten Kunstwerke nicht allen auf Anhieb verständlich (Ausnahmen vorbehalten).» Obwohl diese elitäre Begünstigung längst Tatsache ist, zumindest in den USA. Dort werden die 50 neuen Creative Writing-Studiengänge seit 2000 als gelungener Winkelzug der Kulturförderung gefeiert, weil mit den Dozenturen Autor_innen-Förderungen möglich seien, die nicht so schnell dem politischen Kürzungskampf ausgeliefert wären. [3] Literaturinstitute sind auch Armenhäuser für Autor_innen, in denen Menschen «lehren», die Schreiben als etwas Unvermittelbares bewahren wollen, was Spiller denn auch an der Institution in Biel konsequent kritisiert hat (Paywall).
Aber diese Literaturförderung gibts nicht gratis. Das weiss Carlo Spiller. Autor_innen haben es nämlich verdient. Denn, warum soll es fürs Schreiben Geld geben, «was tut das Gedicht? Im besten Fall: Es hilft. Es hilft uns, zu verstehen. Es hilft, ein erfüllteres und glücklicheres Leben zu führen.» Allerdings: Das macht Geld im besten Fall auch. Um den nötigen Cash zu begründen, müsste man sich wohl mehr ins Zeug legen.
Édace Imbre, der Nobelpreisträger für Literatur, war wohl die einzige Antwort auf Spillers Text. Imbres Verdienst «für und gegen die Literatur» sei es gewesen, Autor_innen zum Schweigen zu bewegen und ihre Manuskripte verschwinden zu lassen. «Schliesslich habe er auch eine Stiftung gegründet, die Stipendien für Schreibende verliehen habe. Auf dass die erfolgsversprechenden Autoren entmutigt würden, vergab man diese stets an hoffnungslose Fälle. Gleichzeitig habe man dadurch bezweckt, dass die ‹glücklichen, aber im Grunde völlig talentfreien Schreiberlinge› sich bezüglich ihrer Fähigkeiten in ‹falscher Sicherheit› wiegten.»
Stipendien und Atelieraufenthalte gehören mehr zur Schreibexistenz als Tantiemen oder Vorschüsse. Sie bestimmen oft darüber, wie lange (über ein Studium hinaus) jemand schreiben wird, und sie zwingen Personen, die einmal ein Buch geschrieben haben, in die fatale Lage, sich als Autor_in verstehen zu müssen. Dann muss um jeden Preis das nächste Buch produziert werden, weil man das ja ist: Schriftsteller_in. Wie ein Adelsstand. Wie ein Bäcker im Kittel.
Und trotzdem: Fragt man sie, womit sich ihr Geld rechtfertigt, haben sie immer gleich eine Antwort, die weit weg von ihren Bedürfnissen liegt. Es hilft – im besten Fall – den Menschen der Nation. Es spendet den Leuten Trost und so weiter… Und nach zwölf Semestern VWL frage ich mich: Warum gibt sich die Ökonomie des Schreibens so wahnsinnig plump?
Seine eigenen Brötchen zu backen scheint oft leichter zu sein, als sich seine Brötchen zu verdienen, aber was ist das für ein Argument? Als ob man das Leichte sucht, wenn man schreibt oder nachdenklich in einer Bäckerei steht, als gierte man nicht nach dem dunkel atmenden Roggenbrot oder dem dampfenden Sauerteig aus deutschen, dicken Handflächen gewalkt. Aus solchem Teigigen wurde schon das ein oder andere Zitat entbergt aus Deutschland. Man wünschte sich insgeheim, sich einzulümmeln.
Gerade wir Schreibende, die wir den arbiträren Wert von Sprache nie erklären können, deren Material wir bloss kneten, sollten wissen, dass niemand jemals irgendwo das verdient hat, was er oder sie – vor allem sie – verdiente. Daran wird die Literatur ganz bestimmt nichts ändern.
Und was tut das Brot? Im besten Fall: Es hilft.
«Ich habe nichts, von dem ich sagen möchte, es sei mein eigen.» (Friedrich Hölderlin, Hyperion)
Ich zücke das Handy und überspringe alle Gesprächsfloskeln.
«Hast du es durchlesen können?»
«Ja, ich hab dir ein paar Kommentare zurückgeschickt. Ich finde es brillant.» Mein Vater sagt immer, es sei ‹brillant›. Ich weiss, dass es nicht gilt, weil er es fast immer sagt – sogar noch bei jenem Text, in dem ein Pfarrer mit Tourette-Syndrom eine Predigt hielt – aber es gilt natürlich trotzdem, weil ich, wie ich ärgerlich bemerke, mich zu freuen beginne. Und wie weit wäre ich ohne dieses ‹brillant› gekommen, das zuverlässig kam? Eine Ökonomin könnte das herausfinden, mit kontrafaktischer Analyse usw. Jede Diskussion über Voraussetzungen (oder «Privilegien») müsste hier anfangen, beim Wort ‹brillant›, obwohl es eine Weile gedauert hat, bis ich den Eltern meine Texte gezeigt habe. Und darauf folgt immer das ‹Aber›, auf das ich lausche, weil es mehr wert ist als eine ganze Woche Urlaub.
«…aber ich habe nicht ganz verstanden, was diese Rikscha soll», fügt er an. «Die steht irgendwie quer zum Charakter des Yogalehrers.» Und dann weiss ich schon, was Sache ist, und Permutationen laufen durch den Kopf, bevor das Gespräch noch zu Ende ist. Die Geisterrikscha früher einführen, ihr eine Rolle und Perspektive zuweisen, sie streichen…? Vermutlich streichen. Mit meiner Mutter sitze ich dann über einzelnen Formulierungen, bei denen sie mir Vorschläge macht, die ich mir zehn Mal laut vorsage, um sie zurückzuweisen oder aufzunehmen.
Das ist nicht jedes Mal so, aber es ist diesmal so, während ich hungrig durch die unordentliche Wohnung stakse. Und ich weiss, dass sie sich immer Zeit nähmen, meine Sachen durchzulesen, sie kennen meine Ideen, meine «Arbeit» und sie setzen sich immer dafür ein.
Ich vergesse das Brot, setzte mich an den PC, drehe die Rikscha dreimal um, schiebe sie zwei Absätze nach oben, dann zurück und merke, wie mir unter dem Hunger und den geröteten Augen jeder Blick für die Dramaturgie abgeht, also lasse ich eine Version mit dem Betreff «Whiplash» an einen Freund raus, bei der die Kritik kommt, bevor ich die Wohnung verlasse: Er lobt die Stimmung von Durban, dieses übergrelle Surferparadies unter dem Paneergeruch eines afrikanischen Himmels, und jetzt weiss ich, was ich eher nicht streiche. Dass er die Rikscha nicht erwähnt, deute ich als schlechtes Zeichen.
Das weiss ich auch: Irgendein Freund hat immer Zeit für einen schwachen Text von mir, auch wenn er gerade im Urlaub oder für 18 Fr./h am Kellnern ist und erst um zwei Uhr nach Hause kommt. Sie alle sind Teil dessen, was ich zu leisten vermeine, und nicht nur Teil. Sie erstellen es von Anfang an. Sie helfen, korrigieren, machen Vorschläge und winken ab, obwohl sie wissen: Am Ende wird nur mein Name über dem Titel stehen.
Es ist die Literatur, weit vor jedem Start Up und jedem Coaching, das die Projektion der Leistung auf ein Individuum perfektioniert hat. Es lässt sich auf den «Foucault-Chiasmus» [Begriff von S. B., danke dafür!] zurückführen: Als die Wissenschaft die Autorfunktion im 18. Jahrhundert abgestossen hat, übernahm sie die Literatur – so beschreibt es Foucault in «Was ist ein Autor?». Davor waren literarische Autorschaften ein Witz, und ziemlich verworren. Vor Goethe, der ihm sich alles war, wäre auch kaum jemand auf die Idee gekommen, diesen vielteiligen Prozess einem leistenden Schriftsteller zuzudenken: den Geldgeber am Hof, die Hofdame als Muse, den Diktierer, die Aufschreiberin, den Vorleser oder Sänger, die Abschreiber, die Raubdruckerin, die alle ihre Finger im Spiel hatten.
«Hier wird der Ausdruck des eigenen Selbst kapitalisiert.» (Ibrahim Flachskap, Kein Rappen für Nebensächlichkeiten)
Heute sind sie explizit verschluckt: Die Agentin (es sind oft Frauen), die Lektorin (es sind oft Frauen), der Verleger (es sind oft Männer), die Partner, die Autorengruppe und vor allem all die Inspirationen, die die Autorin im Vorfeld gelesen hat (die Bezüge), stehen nicht auf der Seite, auf der der Name prangt, und sie werden nicht erwähnt, wenn das Buch einen Preis gewinnt (es sind oft Männer).
Während im Film ein Abspann von Namen über den Bildschirm läuft, und in der Malerei der Name eines klassischen Künstlers längst als eine Firma bekannt ist, unter deren Schirm die Schüler mitproduzierten, ist die Literatur jene grosse Lügenmaschine, bei der die Leistungszuschreibung so reibungslos funktioniert, wie es sich der Neoliberalismus wohl nur wünschen kann. Kids wachsen auf, stöbern durch die Namen der Bibliothek und glauben, sie würden alleine solche Schriftsteller_innen werden können. Ein Problem, das immer noch die arrogantesten Menschen unter die Autor_innen spült oder diejenigen mit Egomanie oder mit ‹brillant› in den Ohren. Ein Problem, mit dem wir bei delirium heute noch kämpfen, wenn Autor_innen beleidigt sind von Kritik, die sie unmässig persönlich nehmen, als stünde ihr Innerstes zur Disposition. Ein Problem, mit dem wir bei delirium kämpfen, wenn wir keine Kurzbiografien veröffentlichen, weil es die Egos nicht genug streichelt. Ein Problem, mit dem wir bei delirium kämpfen, wenn wir zum hundersten Mal gefragt werden, warum wir Texte mit Bezügen verlangen: eben darum; um diese Kooperationen des Schreibens sichtbar zu machen und damit das perfide Ausmass der Leistungszuschreibung, das sich die Literatur angeeignet hat.
Nina Verheyen hat in ihrem verblüffenden Buch Die Erfindung der Leistung (2018) die Geschichte der Leistungszuschreibung untersucht. Überraschung: Die individuelle Leistung als Mass für den gesellschaftlichen Stand ist eine neue Institution, die um 1900 entstanden ist, wie Verheyen an wilhelmischen Schulprüfungen (und der gleichzeitig auftretenden Suizidwelle unter Schüler_innen des Kaiserreichs), an den olympischen Spielen und am Wandel der Begriffs zeigt. Im Bürgertum des 19. Jahrhunderts konnte das Verb «leisten» nur in Verbindung mit einem Objekt verwendet werden, und die Objekte waren fast immer gesellschaftliche Dienste: Gesellschaft leisten, Treue leisten, Beistand leisten. Verheyen skizziert, ohne die sexistischen und diskriminierenden Strukturen dessen zu verbergen, was einen «bürgerlichen Hausstand» konstituiert, dass das «Gesellschaft leisten» eine bürgerliche Tugend ist, an der die ganze Ökonomie teilnimmt. Dass das Leisten kooperativ, humanistisch und auf den oder die andere ausgerichtet war.
Die Leistungszuschreibung der Schriftsteller_innen, die tatsächlich glauben, sie würden alleine etwas «leisten», während sie in Wahrheit von ihrer Umwelt ebenso zehren wie ein biedermeierlicher Bürger von Gesinde und Frau, ist also wohl kaum grundsätzlich bourgeois. Viel eher steckte schon seit der Goethezeit ein neoliberal verwertbarer Leistungsbegriff in der Literatur, bevor er um 1900 zum allgemeinen Standard wurde: «Leisten» ohne Objekt und als Arbeit an der eigenen Identität. Ich leiste. Ich arbeite. Ich schreibe.
Erst nach einer Stunde erwache ich aus der Trance und blinzle die Tränen weg. Ich speichere den Text, suche nach meiner EC-Karte und finde sie im Rucksack unter einem Kleiderstapel.
Draussen trete ich wieder ins Tageslicht, passiere noch einmal den Yogalehrer, der nun einige Schüler_innen in konzentrischen Matten um sich geschart hat und einen Fuss gegen den Himmel streckt, wie um ihn wegzukicken, und gelange nach kurzer Zeit zum Albisriederplatz. Ich bin in mein Handy versunken und versuche, mich vom Hunger abzulenken, indem ich mir die Nachrichten zum Deutschen Buchpreis anschaue.
Hier, günstige Leserin, auf einer der unzähligen Fussgängerstreifen, die wie Speichen aus dem Albisriederplatz strahlen, werde ich angefahren. Oder angerannt, denn eine zementene Schulter wirft mich zu Boden. Das Handy knallt auf die Verkehrsinsel und der Rikscha-Fahrer lässt den Wagen los und stolpert auf mich zu. Mit seinen strengen Wangenknochen, perfekt gezogenen Augenbrauen und dem Helm wirkt er wie jeder Fahrradkurier in Zürich. Als ich mich aufrapple, sagt er: «Sorry, gäll», und geht zurück zum Wagen, auf dem, wie ich jetzt sehe, drei Touristen Fondue essen. Ich versuche einen Blick ins Innere der Rikscha zu erhaschen, als sie mich kreuzen, aber die Vorhänge werden von einer bleichen Hand zugezogen. Für den Bruchteil einer Sekunde taucht die Hand noch einmal auf und lässt eine 50er-Note fallen.
«In bestimmten Kondensationspunkten scheint der Wert [von sprachlichen Zeichen] sich zurückzuhalten, sich zu kapitalisieren, sich zu zentralisieren, indem er bestimmte Elemente mit einer bevorzugten Darstellbarkeit ausstattet und sogar mit dem Monopol der Darstellbarkeit in dem vielfältigen Ganzen, dessen Elemente sie sind.» (Jean-Joseph Goux, Freud, Marx, Ökonomie und Symbolik)
«Unser täglich Brot gib uns heute» – aus Schreibsicht ein schrecklicher Satz, nur Redundanz: ein tägliches Brot ist immer auch ein heutiges, und wenn es uns gegeben ist, ist es logisch unser Brot. Vielleicht wäre Gott etwas freigiebiger damit gewesen, wenn man ihn nicht immer mit schlechten Sätzen angegangen wäre.
Mehl und Wasser – woraus besteht die Kunst? «Wir wollen ans Handwerk erinnern, ans richtige Handwerk und an die Zunft erinnern», wie es nur der Bäcker von Gerertsried verkörpern kann, wenn er im Europapark auf der Bühne steht und von früher erzählt. Was ist das Handwerk des Backens? Wenig schlafen.
Was ist das Handwerk des Schreibens?
- Den Raum aushalten.
- Temporisation (= Verzicht auf Leben).
- Eine Idee haben (= einen Titel auf einem Zettel).
- ‘Leistungsträger_innen’, die lektorieren, kommentieren, unterstützen und ihren Namen nicht auf dem Endprodukt erwarten.
Bleibt noch der letzte Punkt:
- Gut schreiben.
Was ist also dieser letzte, geringfügige Teil, von dem die Menschen immer sprechen, wenn sie vom Schreiben sprechen?
Gutes Schreiben, sofern ich mir das Urteil anmassen darf, lässt sich auf eine einzige Regel herunterbrechen, die ich allgemein gelernt habe: Kurze Wörter statt lange (Orwell), so wenige wie möglich, keine Redundanzen, keine Unnötigkeiten (es gibt keine Beweisführung, nur einen Beweis, keine Fragestellung, nur eine Frage, kein schlussendlich, nur ein endlich), keine überflüssigen Charaktere, wenige Konjunktionen, alles muss sich aus der blossen Reihung von Zeichen ergeben, show don’t tell, kill your darlings (Faulkner), start as close to the end as possible (Vonnegut), get into the scene late; get out of the scene early (Goldman/Mamet) [Rat von S.F., danke dafür!], schwieriger als es klingt – eine Ökonomie des Schreibens, die ich eigentlich überhaupt nicht verstanden habe, aber befolge wie ein Lohnschreiber, zwinker. Warum ist das gutes Handwerk? Vielleicht ist Literatur einfach so scheisse, dass die beste die knappe ist, die, die man schnell hinter sich hat. Das wäre sicher nicht das Unplausibelste, was man über sie schon erzählt hat.
Aber ja, ich habe den roswangigen Bäcker schon gesehen. Zum Beispiel in Die Tribute von Panem. Als Peeta hinter die Bäckerei geht, um Schweine zu füttern, sieht er Katniss, die sich dort ausgehungert in den Schatten versteckt. Er zögert kurz und wirft ihr dann einen dicken Laib Brot zu: einfach so. Viel später wird ihm das noch das Leben retten, als Katniss töten muss, um als Siegerin aus den Hunger Games hervorzugehen. Das Buch von Suzanne Collins ist immer noch eines der besten der letzten Jahre – in ihm ist nirgends zu viel erzählt, nichts Innerliches, und wenn, nur als Folgerung aus dem vorhergehenden Absatz: Das ganze Schreiben bestimmt sich durch ein rationales Kalkül, das abgerechnet wird. Erzählökonomie, wie man es sich wünscht: Wenig Literatur für viel Geschichte.
Es scheint mir aber zentral, diese Ökonomie des «guten Schreibens» mit der Ökonomie dessen zu vergleichen, was das Schreiben abwirft. «Drama is life with the dull parts cut out», hat Hitchcock gesagt – aber die Produktion von Drama ist ja wirklich eher ein Bekenntnis zu den dull parts. Wie hängt das Einsparen von Wörtern mit ihrer Verkäuflichkeit zusammen? Wie sehr gehört die Entschlackung der Form zu einer Unternehmenskultur, die auf der Suche nach Einsparungen der Overhead-Kosten von Just in Time zu Lean und Agile Management übergangen ist? Was bedeutet es in einer Zeit, in der die Grossverteiler nicht einfach nur mit der Economy of Scales punkten und Preise drücken können, sondern auch noch eine Werbekampagne fahren, um sich als die «Bäcker von nebenan» zu verkaufen, um den lokalen Backstuben die letzten Kunden abzuwerben – wie am letzten Dienstagabend berichtet wurde?
Mit dem «Archiv der Erfahrung» hat Thibault Schiemann einen Coup gelandet – seine Kritik zu einem Text, der vollständig in einer sprachkapitalistischen Welt spielt, war eine der grössten Herausforderungen für die neue N°10 und Severin Bruttin hat sie auf erstaunliche Weise gemeistert. Hier werden Sätze gekauft und die Knappheit des Geldes lässt die Leute nur vor sich herstammeln – sogar die Erzählerin. Dass die Erzählerin es auf sich nimmt, vom «Archiv der Erfahrung» überhaupt zu berichten, ist eine rätselhafte Grosszügigkeit, bei der man sich fragen muss: Wer würde sich soviele Sätze abtrotzen, nur um Literatur schreiben zu können?
Zugleich war Schiemann (und sein Artikulationsorgan Ibrahim Flachskap) der Kritiker von Édace Imbre, jenem Literaturverstummer, der für seine brutalen Methoden den Literaturnobelpreis erhalten hatte. Im «Archiv der Erfahrung» findet das Schweigen seinen doppelten Höhepunkt: als stilistisches Prinzip, das gutes Schreiben auszeichnet, und als soziale Tatsache, die ihr vorausgeht – die Knappheit des Erzählenkönnens, das Zeit, Geld, Nerven und andere Formen von Kapital kostet.
So ironisiert die Knappheit der «guten Literatur» – ihre stilsichere, «poetische» Sprache –, gerade die sozioökonomische Knappheit, aus der sie hervorgeht: dass sich nämlich die meisten nicht leisten können/wollen, zu schreiben – zumindest nicht so, wie sie es sich wünschten. Aber mit diesem Widerspruch kann die Literatur bestens leben – oder davon: Es ist eine sehr bürgerliche Ironie.
Kulturgeschichte der Eröterung
Schlafen ist harte Arbeit für Teile des Gehirns
Die Klinke
Die Achterbahnarchitektin
…
«Der menschliche Blick hat es an sich, dass er die Dinge kostbar machen kann, allerdings werden sie dann auch teurer.» (Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen)
Alice im Wunderland kennt ihren Adam Smith – aber sie senkt trotzdem die Stimme wie schockiert, als sie die invisible hand ins Spiel bringt:
«’The game’s going on rather better now,‘ [Alice] said, by way of keeping up the conversation a little.
“Tis so,‘ said the Duchess: ‚and the moral of that is — „Oh, ‚tis love, ‚tis love, that makes the world go round!“‚
‚Somebody said,‘ Alice whispered, ‚that it’s done by everybody minding their own business!‘
‚Ah, well! It means much the same thing,‘ said the Duchess, digging her sharp little chin into Alice’s shoulder as she added, ‚and the moral of that is — „Take care of the sense, and the sounds will take care of themselves.“‚»
Liebe und Eigeninteresse werden in den Augen der Herzogin zur gleichen Sache – und die Moral aus dieser Gleichung lautet: «Take care of the sense, and the sounds will take care of themselves.» Eine Anlehnung ans Krämer-Sprichwort: «Take care of the pence, and the pounds will take care of themselves». Nur dass sich in dieser Saussureschen Umwandlung das Lautbild der Bedeutung unterordnet. Wer also aus purem Eigeninteresse nur die Bedeutung anspart, dessen Worte werden automatisch aus dem Mund sprudeln oder sich auf die Seite ergiessen: Gerade so, wie die Herzogin denkt, mit ihrem Strom an ständig differierenden Sprichwörtern immer das gleiche zu meinen.
Das Problem mit der Sprache ist dasjenige des Geldes: dass man meint, es zu besitzen, während es zugleich einen selbst besitzt. Dass man glaubt, man könne damit Gutes anstellen ohne zu merken, dass es den Schaden schon in sich trägt, indem es das schon verändert, was «man glaubt zu können»; dass es einen besitzt, einem aufsitzt, wie ein Alp oder ein Egel oder ein Vampir. Insofern begeht die Herzogin lediglich in zwei verwandten Feldern den gleichen Fehler, den auch wir ständig begehen.
Es wäre unehrlich zu behaupten, man beherrsche ein Handwerk beim Schreiben. Schreiben ist kein Backen. Es ist eher ein Einrichten. Man richtet sich im Chaos ein, das die Sprache gerade bereitet, man versucht, mit ihr zusammenzuleben, sich in ihr einzurichten, obwohl sie einen jederzeit überrumpeln und beherrschen könnte – genau wie man das schräge 30er-Jahre-Zimmer einmal eingerichtet hat und jetzt darauf hofft, dass sein Gewucher – Staubflechten, Bücherstapel, Handykabel – einen nicht phagozytiert.
Warum, frage ich noch einmal arrogant, ist die Ökonomie des Schreibens also so wahnsinnig plump? Wie sinnvoll ist es, dass Schreibende sich als Brötchen-Bäcker_innen verkaufen, indem sie auflisten, was sie «leisten» («es hilft, es hilft») und dann ihren «verdienten» Lohn einfordern? Indem sie die gesellschaftliche Rolle der Literatur kurzerhand definieren und dann irgendwelche Ziffern aufs Honorarbudget pappen.
Die Wurzel des Problems lässt sich am Begriff des «symbolischen Betrags» und des «symbolischen Honorars» messen, das im Literaturbetrieb eine zentrale Funktion innehat [Idee von S.P., danke dafür!]. Der symbolische Betrag ist natürlich nur für ein symbolisches Leben denkbar, eines, für das man symbolisch isst und beim Bäcker symbolisch einkauft. Er ist die Bekundung eines Willens, der für immer im Symbolischen aufgehoben ist, eine Entschuldigung für zu viel Wollen bei zu wenig Haben (von Soll kann in dieser Branche keine Rede sein). Zwei der stärksten Symbolsysteme unserer Gesellschaft: Geld und Sprache, vermögen sich gegenseitig offenbar nicht aufzuwiegen. «Symbolisch» ist ein längeres Wort für «zu wenig».
Das Gefährliche des symbolischen Betrags ist die Idee, dass es einen nicht-symbolischen Betrag gäbe. Als würde sich von Zeit zu Zeit der rauchdurchwobene Vorhang der Welt öffnen und irgendjemandem auf dieser Welt einen echten, realen, faktischen, wahrhaftigen, fairen Betrag ins Gesicht pusten. Als wären die Wege zu einer solchen Idee nicht schon längst versperrt. Als hätte sie nicht gerade die Literatur versperrt, die nur mit dem Symbolischen arbeitet, nur mit ihm arbeiten kann, für die das Symbolische eben nicht «zu wenig», sondern schlicht alles ist.
«How long you let your book rest – sort of like bread dough between kneadings – is entirely up to you, but I think it should be a minimum of six weeks.» (Stephen King, On Writing)
Ich verstehe schon: Es geht um einen ehrlichen Umgang mit einer Branche, die im Buchmarkt längst kapitalisiert ist. Man will nicht so tun, als wäre Literatur eine Schöngeisterei ohne Implikationen für das Leben. Was ist also die Idee? Dürfen die Schreibenden etwa nicht mehr um Geld kämpfen? Sollen sie sich von Mäzenen oder vom Erbe durchfüttern lassen wie soviele Jahrhunderte zuvor, was sich ohnehin nur die immergleichen privilegierten Männer (und ein paar Frauen) leisten können?
Na ja. Sie sollten diesen Kampf vielleicht nicht als Schriftsteller_innen führen: Wer, wenn nicht sie, sollte erklären können, warum es ein Anrecht auf Leben gibt; auf eine Existenz, die sich nicht bezahlt machen muss, um zu überleben. Schreiben ist egal: Es ist phänomenal egal, auf eine wichtige Art egal, aber auch auf eine Man-sollte-es-jetzt-auch-nicht-überromantisieren-Art egal. Leben können hat nichts damit zu tun, wie gut du dich als Schriftsteller_in verkaufst. Und das ist kein Martyrium, sondern nur eine Ehrlichkeit gegenüber dem Schreiben selbst, weil Sprache sich eben auch nicht so verkaufen lässt, weil man sie eben nicht beherrscht, sondern weil sie ihre eigenen Brötchen backt.
Aber wenn Schriftsteller_innen sich als Bäcker_innen vermarkten, verraten sie nicht nur die Verschwendbarkeit und Widersprüchlichkeit des Schreibens, seine Sinnlosigkeit – viel schlimmer ist, dass sie dabei so tun, als wäre die Bäckerei überhaupt ein vernünftiges Modell der Ökonomie.
Adam Smith mochte seine Welt noch auf dem Modell des Bäckers aufbauen. Aber das ist nicht unsere. Unsere Welt ist eine, in der nicht der Preis der Brote, sondern minimale Kurssschwankungen und die Rechtssprechung in Panama das Schicksal der Wirtschaft bestimmt. Eine Welt, in der die Menschen, egal wieviel sie geleistet, wieviele Stunden sie im Room verbracht und Literatur produziert haben, die Finanzunternehmen, bei denen sie eigentlich Kund_innen sind, mit ihren Steuergeldern retten müssen. Eine Welt, in der Unternehmen wie Whatsapp und Instagram etwa soviele Leute beschäftigen wie ein grösserer Backbetrieb (55 resp. 13 Angestellte bei Verkauf an Facebook).
Im Bäckereiüberfall 2 holt der Protagonist aus der ersten Erzählung seinen vereitelten Überfall viele Jahre und spätnachts mit der Partnerin nach. Aber weil die Bäckereien nach Mitternacht alle geschlossen sind, können sie nur den McDonald’s – Suan Long gibt es in Japan natürlich nicht – ausrauben und erbeuten dafür 30 Big Macs.
Das Bemühen, die Leistung des Schreibens aufzuschlüsseln, ist wichtig. Die Schreibforschung beschäftigt sich kaum mit dem Literarischen und die critique génétique lässt die Ökonomie ausser Acht; wenn es aber für delirium darum gehen soll, literarisches Schaffen auf ein neues Level zu heben, muss es diesen Komplex berücksichtigen. Schreiben ist eine Leistung und sie wird gegenwärtig behindert durch eine Ökonomie, die es dominiert – äusserlich, natürlich, aber auch durch die selbstgemachten Vorstellungen, in die sich das «Metier» selbst verfrachtet.
Die Leistung des Schreibens zu einem Rätsel zu überhöhen, würde daher nur einem diskriminierenden und falschen Geniebegriff huldigen, der das Literarische zersetzt. Zugleich darf man allerdings auch nicht unterkomplex sein – die Literatur zeigt uns, dass sie weit besser mit einer Ökonomie des 21. Jahrhunderts schritthält, als dass sie sich mit einer längst ironisierten Ökonomie des 18. Jahrhunderts abmühen müsste. Die Literatur sagt uns mehr über High Frequency Trading, über Derivatehandel, über die «Praktika-Generation» und Bullshitjobs, über Chronopolitik, Plattformkapitalismus, Datenfeudalismus und «business ontology» (Mark Fisher), als über das Verkaufen von Brötchen über einen Tresen hinweg.
Schreibende müssen sich nicht in ein untergehendes System eingliedern. Sie müssen sich hinausschreiben. Zum Beispiel mit einem Titel:
Alles, alles über deine Familie
Er erlag einer inneren Versetzung
Sich in die Tüten schauen
Schlauch
Durchsichtige Vorwände
Wer ist arm?
«Der Bäcker gibt mit das Brot auch so.»
«Während ich nach den Schillingen und Pennys in meiner Tasche suchte, überkam mich ein unglaubliches Glücksgefühl: Endlich stand wieder das Geld im Mittelpunkt aller Dinge, das heisst, der Mensch.» (Antal Szerb, Die Pendragon-Legende)
Als ich die Bäckerei betreten möchte, bleibt die Tür still. An Sonntagen schliesst sie am Nachmittag, auch im 21. Jahrhundert. Ich schaue durch die Glastür: In der Vitrine liegt noch das Brot, eingerollt in ein Papier. Der Blick wird milchig, weil die Scheibe beschlägt. Der Dampf der Woks strömt ins Café Bauer, wenn die Kellnerinnen aus der Küche kommen. Die alten Menschen, die hier schon lange vor Suan Long ihre Kaffees tranken, drehen sich um und rümpfen die Nase. Die Polin begrüsst mich, ich bestelle 71, eine glückliche Ente.
Cédric Weidmann
[1] «Nobody but a beggar chooses to depend chiefly upon the benevolence of his fellow-citizens. Even a beggar does not depend upon it entirely. The charity of well-disposed people, indeed, supplies him with the whole fund of his subsistence.»
[2] Jacques Derrida: „Die Différance“, in: ders.: Randgänge der Philosophie. Wien: Passagen 1999. S. 38.
[3] Clayton Childress: Under the Cover. The Creation, Production, and Reception of a Novel. Princeton N.J.: Princeton University 2017. S. 5. Das Argument für Kürzungen wird fast immer als ästhetisches verkauft: «artistic funding should be granted to authors not on the basis of need but solely on the basis of perceived talent.» Genau gegen dieses Argument wurden MFA-Dozenturen aufgestellt. Ebd.
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