Der Verkehrskundeunterricht

«Und was seht ihr hier?», fragte der Fahrlehrer und sah über die Schulter auf das sich von rechts hereinschiebende Bild der Präsentation. Eine gerade Strasse mit einem entgegenkommenden Fahrzeug, hinter dem ein zweites leicht versetzt zum Überholen auszuheben schien. Zu beiden Seiten breitete sich mattes Gras mit vereinzelten Apfelbäumen. Der Gelbstich und die pelzige Frisur des Fahrzeugfahrers ergänzten das Foto aus den 80er-Jahren.
«Zwei Autos», rief Andrea, die Älteste.
«Gut. Ist das eine gefährliche Situation für uns, wenn wir auf der Strasse fahren?», fragte der Fahrlehrer und zupfte an seinem Spitzbärtchen. Er schwenkte den Blick zu den vorderen Reihen der Schüler, in der Hoffnung, dass auch sie etwas sagten. Insbesondere um die eine — eine junge Fahrschülerin, die sich auch in den Stunden sehr einsilbig gab — war er besorgt.
«Klar», sagte schliesslich, als wäre es ein ins Kauen des Kaugummis eingefügtes Geräusch, der Junge neben ihr.
«Klar! Richtig! Aber warum?»
«Weil wir nichts tun können», rief Andrea aus der hintersten Reihe. «Wir sterben.»
Der Fahrlehrer lächelte. «Nicht unbedingt. Könnte sein. Es wird auf jeden Fall eng. Für uns und ihn. Ausweichen ist auch nicht gut, wenn man die Bäume sieht. Ausserdem könnte er dasselbe machen. Was also tun?»
«Signale geben. Lichthupe», rief Andrea.
«Genau, oder?»
«Langsamer fahren, vorsichtiger schauen, notfalls eben langsam ausweichen.»
«Genau. Aber eigentlich: können wir hier fast gar nichts mehr machen.»
«Wir sterben.»
Der Fahrlehrer zupfte sich am Spitzbärtchen und schlug eine laut hämmernde Taste seines Computers an. Die altmodische Präsentation löste sich in grosse Pixel auf, die sich zu einem neuen Foto zusammensetzten.
«Und was seht ihr hier?», fragte er.
«Menschen! Trams. Ein Schild.»
«Genau, was ist das für ein Schild?» Er zeigte auf Yan, den kauenden Jungen.
«Ein Nicht-Parkieren-Schild.»
«Seht ihr sonst noch was?»
«Ja, da, ein Kind im Schatten.»
«Richtig, Andrea. Auf die Kinder müssen wir achten, auf die Schatten, auf die Schilder, denn wo Nicht-Parkieren-Schilder sind, sind entweder die Wege sehr eng oder es könnten Einfahrten vorhanden sein. Fahren wir hier schnell durch?»
«Nein, langsam», rief es von hinten.
«Genau. Also, was müsst ihr bei einer solchen Situation beachten?»
«Vorsichtig fahren, verschiedene Verkehrsteilnehmer im Blick haben. Die Tramgleise beachten, wegen Velofahrer und so.»
«Genau», murmelte der Fahrlehrer und wollte schon auf die laute Taste hauen, um den nächsten Slide einzublenden. Doch dann fuhr die Hand neben Yan hoch. Es war die schweigsame Anita.
«Aber da ist doch noch etwas…», sagte sie langsam und so leise, dass sich Andrea hinten über den Tisch lehnte.
«Wo denn?», fragte der Fahrlehrer sie freundlich ermutigend und drehte sich zum Bild.
«Na da, hinter dem Sicherungskasten…»
Die ganze Klasse beugte sich vor, um einen deutlicheren Blick zu haben. Dort, neben der Allee, im Schatten hinter dem Kind, ragte etwas hinter dem Sicherungskasten hervor. Erst schien es nur eine Täuschung, aber bei stärkerem Hinsehen war die Deutlichkeit nicht zu bestreiten, und die Konturen zeichneten sich, wie beim Aufwachen in der Dunkelheit, mit fast brennender Genauigkeit, ab. Andrea stiess einen gellenden Schrei aus. Yan murmelte etwas. Der Fahrlehrer war bleich geworden und rupfte grob an seinem Spitzbärtchen. Seine Hand glitt wie automatisch zur Taste, um das Bild weiterzuschalten, aber sie verharrte zehn Zentimeter über der Tastatur und bewegte sich nicht. Immer noch sahen sie das handartige, umgestülpte, grausige Gebilde auf dem dreissig Jahre alten Foto an, neben dem der normale Tagesbetrieb auf der Strasse herrschte. Ein Geräusch erklang, als ein Junge in Ohnmacht, sein Kopf hart auf den Tisch und sein New Era-Cap zu Boden fiel.

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