Zins

«Ich frage mich, an welche Frau du deine Worte freigiebig ausspenden wirst, die du an mir sparst, und womit sie es verdient», hatte seine Exfreundin gesagt. Manche hielten ihn für melancholisch, andere für stumpfsinnig. Er besass eine Ein-Zimmer-Wohnung in der Stadt. Ein kleiner Gedanke, der mit vier pappdünnen Wänden begrenzt war. Zwei ausgestreckte Arme konnten die Tapeten berühren. Die Geräusche drangen von beiden Seiten so mühelos durch sie hindurch, dass man wohl glaubte, das Zimmer, in dem er wohnte, sei gar nicht vorhanden. Er arbeitete in einem Plattenladen und versuchte, sich hochzuarbeiten. Er wusste nicht, wohin genau er sich hocharbeiten wollte, und die Vorstellung, er könnte befördert werden, machte ihm eigentlich Sorgen. Die Frau vom Vertrieb, die wie ein Gerümpel im Hinterzimmer lag und der aus dem Mundwinkel ein schwarzes Telefonkabel baumelte, war sehr dick und er fürchtete, selber dick zu werden. Er sah schon prüfend an sich herunter. Zum Glück gab es keinen Anlass zur Annahme, er könnte befördert werden. Wenn er im Bett lag, betrachtete er den Staub, der im Licht der Strassenlaterne aufleuchtete, das durch eine lockere Jalousie hineinschlüpfte. Es beschäftigte ihn, dass sein Körper dem Staub in seinem Zimmer Platz wegnahm und er versuchte, soviel wie möglich einzuatmen, so dass sich die Partikel in seinem Körper wie im Zimmer ausbreiten konnten, wenn er nicht da war.
Im Hinterhof gab es eine Laube, unter der er rauchte und zu den erleuchteten Fenstern der oberen Wohnungen blickte. Mit einer älteren Frau in einem der warm strahlenden Vierecken hatte er eine Affäre. Die meisten Tage der Woche war ihr Mann zu Hause und er durfte sich nicht blicken lassen. Das fiel Leif nicht schwer, er liess sich eigentlich ungerne blicken, oder gerne nicht blicken, und vieles wies darauf hin, dass er diese Affäre eigentlich abbrechen wollte, aber er sagte nichts.
«Fick dich!», rief ihm jemand zu, als er den Supermarkt mit zwei Aprikosen, zwei Gurken und einer Packung Fischstäbchen verliess. Er drehte sich um, blinzelte das Licht der Mittagssonne weg und sah den Rufer an die Wand gelehnt. Der etwa Sechzehnjährige spuckte zu Boden. Sein kleiner, blonder Kumpel blickte der Spucke prüfend nach, als könnte sie unerwartet Haken schlagen. «Ja, dich meine ich», rief der Junge argwöhnisch. Die Jungs starrten auf den Ort, wo die Spucke in den Asphalt aufging, und Leif starrte auch. Er machte eine ratlose Handbewegung. Der Junge blickte auf. «Ja, fick dich einfach», sagte er, während er mit dem ausgestreckten Zeigefinger das Nasenpiercing berührte.
Er las kaum, denn es machte ihm Kopfschmerzen. Er spielte ein Videospiel zum zweiten Mal durch, bei dem es darum ging, giftspeienden Chamäleons unbemerkt falsche Eier unterzujubeln. Aus matter Gleichgültigkeit sprang ihn manchmal ein Verwundern darüber an, dass er keine Musik hörte und weder Boxen noch Kopfhörer besass, obwohl er im Plattenladen arbeitete. Dann war ihm plötzlich klar, weshalb er nicht befördert wurde, und fühlte sich seiner Misserfolge schuldig. Nach dem Rauchen hatte er sich meistens versöhnt. Einmal im Monat ass er bei seinen Eltern Saltimbocca und übernachtete im frisch bezogenen Kinderbett. Wie die eines Kindes rieben seine Beine über das Leintuch, die die Weichheit und den Geruch der Wäsche gar nicht fassen konnten. Zwei Kanarienvögel, die Kinder derer, die er selber gehegt hatte, lebten dort und erwiderten morgens seinen verschlafenen Blick. Kanarienvögel konnten, wie Papageien, Stimmen nachahmen, doch er hatte ihnen nie etwas beigebracht. Der Lärm des im Wasser aufplätschernden Urins war ihm zuwider, und wenn er merkte, zulange auf die rechte Seite der Schüssel zu pissen, schwenkte er aus Symmetriegründen auf die linke um. Seine Mutter fragte nach den Frauen in seinem Leben, aber weil er nichts von der Nachbarin erzählten wollte, schaufelte er sich Corn Flakes in den Mund und las die Packungsrückseite.
«Fick dich!», rief eine Stimme, als über den Bahnhof lief. Es waren die gleichen Jungs und der eine fasste sich mit dem Zeigefinger an das Piercing: Er schien erschrocken darüber, dass es noch an seinem Platz war. Leif wäre auf sie zugegangen, aber sie waren zu weit weg, und es wäre lächerlich gewesen, hundert Meter auf jemanden zuzulaufen, den man nicht kannte. Ausserdem wirkte er von der Nähe noch weniger einschüchternd als auf Distanz. Rasch duckte er sich unter die Leute und verschwand.
Es regnete sehr, und er fühlte sich trotz der Dunkelheit wach. Er öffnete die Gartentür, und ging unter die Laube. Die oberen Fenster waren alle verschlossen. Er wollte rauchen, aber die Zigarette erlosch. Er fühlte sich zu Verschwendung aufgelegt, war jedoch zu müde, um etwas aus seinen Vorräten zu holen. Zwei Vögel sassen unter einem schützenden Ast und warteten darauf, dass der Platzregen versiegte. «Nein, nein», murmelte Leif, «fick dich», und verstummte. Der Regen hatte nicht aufgehört, es schien erst nur so, weil er leiser geworden war. Die Vögel waren verschwunden.

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