Zweifel
Die Demokratie, wie wir sie kennen, hat eine lange Geschichte hinter sich.
Historiker beziehen sich oft auf die griechische Demokratie, wenn sie nach deren Ursprünge suchen. Betont wird dabei jedoch, dass es sich bei diesem anfänglichen Modell um eine Demokratie eines Bruchteils der Bevölkerung handelte. Stimmberechtigt waren weder Sklaven, noch Frauen, keine Gefangenen und keine Einwohner von Ortschaften in der Peripherie der Stadtstaaten. Das „Volk“ war ein sehr eingeschränkter Kreis von Bürgern.
Andere Historiker sagen, die Schweiz sei das wirkliche Paradebeispiel für Demokratie, womit aber bereits ein riesiger geschichtlicher Sprung gewagt wird. Auf die halbdirekte Demokratie, die im Bund so stark verankert sei wie kaum irgendwo auf der Welt, und die es schon so lange gebe, sind die Schweizer sehr stolz. Heute, nach mehreren tausend Jahren Geschichte, sind die Menschen überzeugt, dass jeder vernünftige, also mündige, Einwohner eines Landes ein Mitbestimmungsrecht im Staat haben sollte1.
Diese Überzeugung wurzelt im Humanismus. Er hatte die Aufklärung ins Rollen gebracht und mit ihm den optimistischen Anthroposophismus. Er brachte eine Bewegung mit sich, die an erinnerungswürdigen Ereignissen mitgewirkt hat, namentlich der französischen Revolution oder der Märzrevolution des 19. Jahrhunderts, und die uns schliesslich in die Gegenwart getragen hat, zu unserem Verständnis der Politik.
Zweifel an der Demokratie
Der heutigen Auffassung von Demokratie liegen zwei philosophische Überzeugungen zugrunde.
Erstens geht sie davon aus, dass die Welt aus verschiedenen politischen Subjekten besteht. Dass es ausser dem eigenen denkenden Subjekt noch andere gibt, die zumindest politische Relevanz haben.
Und sie findet zweitens, dass diese Subjekte alle gleich viel politisches Gewicht haben sollen.
Doch wie funktioniert unsere Demokratie? Bestimmen die „Meisten“ tatsächlich über den „Rest“? Kann die Mehrheit des Volkes alles veranlassen, was es will?
Hier taucht eine Problematik auf, die in der modernen Form der Demokratie vorhanden ist. Der Minderheitenschutz beispielsweise zählt zu den grossen Errungenschaften humanistischer Vorstellung. Ist er jedoch demokratisch?
Nein, denn Demokratie – wenn man sie als die Herrschaft der Mehrheit betrachtet –widerspricht jedem Zuspruch der Minderheit.
Die institutionalisierte Demokratie ist jedoch keine radikale Herrschaft der Mehrheit, sie ist schliesslich auch nicht vollkommen direkt. Es gibt überpositive Rechte, Menschenrechte, Religionsfreiheiten, Meinungsfreiheiten und der Schutz der Menschenwürde. Sie sind ein Bestandteil der angeblich demokratisch bestimmten Staatsform, stehen aber immer über den Gesetzen, die die Demokratie verabschieden könnte.
Man kann jedoch anders fragen: Sind diese überpositiven Rechte demokratisch entstanden?
Vermutlich nicht, denn sie verletzen zwei Prinzipien der Demokratie.
Einerseits liegt die Entstehung dieser Rechte eine Weile zurück, sie repräsentieren also nicht zwingend die heutige Meinung der Mehrheit, was im eigentlichen Verständnis von Demokratie der Fall sein sollte.
Andererseits ist die Entstehung selbst auch kaum direkt-demokratisch verlaufen. Humanistische Intellektuelle, aufklärerische Anführer, französische Revolutionäre, UNO-Räte und Abgeordnete haben diese Rechte schriftlich aufgesetzt und damit eingeführt, nie war es das eigentliche Volk.
Trotzdem werden sie geachtet und das überpositive Recht gilt als das wichtigste überhaupt.
Dessen muss man sich bewusst sein, wenn man Schillers Fürsten sprechen hört. Sein Urteil, dass die Mehrheit „Unsinn“ sei, muss in aufgeklärten Ohren nicht nur arrogant, sondern auch alarmierend klingen. Dennoch lässt sich fragen: Hätten wir auch Menschenrechte, wenn man in der Geschichte stets demokratisch entschieden hätten? Möglicherweise nicht.
Die Entscheidung irgendeines Staates, demokratisch zu sein, wurde auch nicht demokratisch gefällt. Humanismus und Aufklärung hatten ihre Figuren, ihre Triebfedern und die erfolgreichsten Staaten sind oft von einem klugen Präsidenten geführt, nicht tatsächlich von der Mehrheit.
Schillers Fürst ist mit dieser Ansicht nicht allein, selbstverständlich auch nicht in intellektuellen Kreisen. Ein grosser Vertreter dieser staatsphilosophischen Überzeugung war Macchiavelli, der in seiner Schrift „Der Fürst“ eine absolutistische Herrschaft verteidigte und erklärte, nur sie könne zum grössten Wohl der Bevölkerung führen. Ähnliches Gedankengut lässt sich neben Goethe und Schiller zum Beispiel auch bei Nietzsche entdecken. Sie alle sind wie der Fürst Leo Sapieha überzeugt, dass die Mehrheit zu keinem Erfolg führe.
Haben sie Recht?
Zweifel an der Mehrheit
Einmal von der Argumentation des Fürsten abgesehen, dass Verstand „stets bei wen’gen nur gewesen“ sei, deren Anerkennung mir als humanistisch geprägtem Menschen sehr widerstrebt, lässt sich mit gutem Gewissen weiterfragen, was das eigentlich ist: eine Mehrheit.
Von einer Mehrheit kann man bei einer statistischen Verteilung sprechen, wenn bei einer Entscheidung etwas mehr als 50% aller politischen Subjekte für eine Meinung einstehen. Dass bedeutet, dass dabei immer noch fast 50% nicht einverstanden sein können. Das Prinzip der Demokratie schreibt jedoch vor, dass die Menschen zu ihren Mehrheitsentscheiden stehen sollten. Es ist, so betrachtet, ein sittlicher Fehler, wenn sich die Wähler im Nachhinein über die Resultate einer Minarett-Initiative beschweren, selbst wenn sie „Nein“ gestimmt haben. Dass diese Diktatur der Mehrheit zu Problemen führt, ist vorprogrammiert.
Schliesslich kommt man schnell zu der Überlegung, ob es wirklich richtig ist, den Utilitarismus walten zu lassen und zu sagen, dass Menschen statistische Nummern seien. Viele stimmen über Themen ab, über die sie sich nicht richtig informiert haben, oft betrifft es sie nicht und in den meisten Fällen gibt es bei einer konventionellen Abstimmung eine gewaltige Zahl von Stimmberechtigten, die gar nicht an der Urne auftauchen. Sollte man, wenn man über komplizierte Bildungsreformen abstimmt, nicht den Lehrern, Schülern und Rektoren mehr Gewicht einräumen, als jenen, die davon nicht betroffen scheinen?
Deshalb ist das Argument des Fürsten nicht nichtig, wenn er sagt: „Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen“. Es war ja nie tatsächlich so, dass Menschen gleich gewesen wären – Menschen sind verschieden – oder dass sie mathematischen Zahlen entsprächen. Die statistische, utilitaristische, sehr liberale und auch irgendwo kapitalistische2 Vorstellung, dass Menschen auf eine Stimme reduziert werden und dass man diese zählen kann, ist in Anbetracht der Ideologie, dass Menschen einzigartige und vernünftige Wesen seien, eigentlich absurd.
Die Philosophie der Aufklärung akzeptiert zwar die Unterschiede der Menschen, geht aber davon aus, dass durch Bildung alle Menschen zu urteilsfähigen, mündigen, schliesslich vernünftigen Bürgern werden. Dass sie also fähig sind, sich selbst eine Meinung zu bilden und damit alle gleiche Rechte und gleiche politische Mitbestimmungsanteile verdient hätten.
Die Erfahrungen der Vergangenheit haben jedoch gezeigt, dass mit Propaganda Menschen politisch beeinflusst werden können. Die Unterschiede zwischen meinungsbildenden Informationen und politischer Werbung sind vage und oft werden wir nicht gerade unparteiisch über bevorstehende Abstimmungen in Kenntnis gesetzt. Werbung ist für politische Interessengruppen offenbar eine lohnende Investition, man kann folglich davon ausgehen, dass sie eine gewisse Wirkung hat. Der gebildete Mensch, der fähig ist, sich „aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu führen, ist damit in Frage gestellt. Geht die Demokratie womöglich von zu hohen Ansprüchen an die Menschen aus? Funktioniert sie nicht, weil die Menschen nicht ihr Idealbild erfüllen?
Das Zweifeln-Dürfen
In verschiedenem Wortlaut wird oft Churchill zitiert, der sich so ungefähr geäussert haben soll: „Die Demokratie ist eine schlechte Staatsform, aber die beste, die bisher bekannt ist.“
Ich möchte gerne an diesem Gedanken festhalten.
Man kann klarstellen, dass es eindeutige Probleme mit der vorherrschenden Form der Demokratie gibt, wie erwähnt wegen Störfaktoren wie Propaganda, – vielleicht – fehlender Bildung oder dem überpositiven Recht. Die Demokratie ist also keineswegs ein einwandfreies System, obwohl der Gedanke, auf dem es aufgebaut ist, im Grunde genial und fortschrittlich ist. Weshalb jedoch sollten wir ein System haben, dass nur fehlerhaft funktioniert, anstatt – wie es der Fürst bei Schiller zu fordern scheint – eine Bildungsaristokratie, in der nur jene entscheiden dürfen, die über die Sache Bescheid wissen?
Ich erinnere mich an eine Äusserung des französischen Philosophen Jaques Derrida, bei einer Diskussion um die Kulturkonflikte zwischen „Westen“ und „Osten“. Er gibt einen wichtigen Grund für das Bestehen und einen Vorzug der Demokratie an.
Die Demokratie, wie sie ideologisch existiert, nennt er die démocratie à venir. Dieser Begriff soll darauf hinweisen, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, in der das Zweifeln und das Kritisieren im System integriert sind. Die Demokratie kann sich selbst abschaffen, wie das vielleicht bei der NSDAP vor dem zweiten Weltkrieg passiert ist. Sie kann ihre Entscheidungen kritisieren und nach besseren Lösungen suchen. Die démocratie à venir ist ein Sinnbild für etwas ewig Wiederkehrendes im System, dass es von innen heraus zu verbessern sucht.
Die Demokratie kann alles das sein, was die Mehrheit will. Wenn die Mehrheit es will, kann es auch keine Demokratie sein, und trotzdem wäre das dann demokratisch.
Das ist es, was das System von allen anderen abhebt, weil es die Fähigkeit zu einer effizienten Verbesserung aufweist. Eine Staatsform, die Kritik erlaubt und zu ihrer Grundlage erkort, ist eine Staatsform, die demokratisch ist, denn sie stimmt mit den anfangs erwähnten zwei Prinzipien überein.
Erstens ist sie aktuell. Zweitens ist sie mehrheitsfähig.
◊
1 Das Ausländerstimmrecht fehlt noch zur Erfüllung dieses Konzepts, es sei denn, man bestehe darauf, den Ausländern – aus welchen Gründen auch immer – die Mündigkeit abzuerkennen.
2 Das Verständnis von Stimmen als Werteinheiten entspricht dem Verständnis von Währungen. Das spiegelt sich auch im metaphorischen Vokabular der Politik: Man kann Stimmen gewinnen, anhäufen, verlieren, in den Sand setzen, verspielen, usw.
Sags hier: