The Hunger Games: Die Tribute von Panem – ein postmoderner Horrorfilm

Truman ist nicht arrogant

Wer mich persönlich kennt, hat bestimmt schon einmal diese Anekdote gehört. Sie ist die Anekdote von einem Vertrauensbruch und ich glaube, jeder Mensch, auf den man etwas halten kann, hat einen Vertrauensbruch in seinem Leben erlebt. Jeder hat auch seine Anekdote. Meine lautet so:

Es gab in meiner Kindheit nie einen Film, dessentwegen ich Angst gehabt hätte oder nicht hätte einschlafen können.
Stolz bin ich darauf nicht und muss zugeben, dass das vielleicht auch nicht ganz den Kern trifft. Bei irgendeinem Herr der Ringe träumte mir vor den Orksen und mir war nicht ganz angenehm zu Mute, als ich in der Nacht vor Schreck auffuhr. Und doch erfasste ich diese Furcht vor den Orksen mit Verwunderung und einer nüchternen Neugierde und war sehr erstaunt darüber, dass mich das noch erschreckte. Tatsächlich schlief ich beim dritten Herr der Ringe dann im Flugzeug ein, obwohl ich unbedingt hatte aufbleiben wollen. So schlimm kanns also nicht gewesen sein.
Dies wäre keine Anekdote, wenn nicht noch eine Ausnahme käme: Es gab doch einen Film, der mir Angst machte. Einen Film, der mich als kleiner Junge verstörte und weit über jenen Tag hinaus plagte, an dem er in einem Reise-Car, man könnte also behaupten: gegen meinen Willen, vorgeführt wurde.
Es war die Truman-Show.
Auf den achtjährigen Cédric machten die Witze und Fratzen von Jim Carrey nicht den geringsten Eindruck. Stattdessen starrte er wie gebannt auf den Bildschirm und er begann zu schwitzen. Sein Gehirn wirbelte durcheinander bei der blossen Vorstellung der Perversion der Vorstellung, die im Film skizziert wurde.
Ein Vater, grausamer als der Richter in Kafkas Urteil, zwängt seinen eigenen Sohn in eine voyeuristische Maschinerie: eine Kuppel, in der jede Bewegung von Truman aufgezeichnet und in die Aussenwelt ausgestrahlt wird, bildet die Welt, in der er sich bewegen darf. Sein gesamtes Umfeld sind bezahlte Schauspieler, die so tun, als führte er ein mehr oder weniger alltägliches Leben. Seine Verwandten sind nicht seine echten Verwandten und seine Freunde nicht seine echten Freunde.
Cédric stand vor dem Spiegel und fragte sich, ob nicht vielleicht er – er selbst – Opfer einer solchen Verschwörung wäre. Und woran merkte man es? Womöglich merkte man es nicht. Was mich Tag und Nacht quälte war die blosse, ja egal wie abwegige Möglichkeit, ständig beobachtet zu werden. Das war mein Horrorfilm und war und ist vielleicht immer noch die Horrorfantasie meines Lebens.

Für viele Menschen ist es erstaunlich oder lächerlich, ja auch arrogant, dass mich eine solche Angstvorstellung marterte, gerade weil der Film eigentlich harmlos ist. Es war nur ein Film und dazu nicht einmal ein guter.
Es stimmt, es ist ein Film und ein schlechter obendrein.
Aber es geht nicht um Arroganz. Ich glaube nämlich, und das glaube ich bis heute mit Überzeugung, dass diese Fantasie viel weniger übertrieben ist, als man denkt.
Ich weiss, dass Menschen gerne einen Truman auf dem Fernseher sehen wollen. Sie wollen nicht grausam sein, aber das Grausame sehen. Ich gehöre ganz zuvorderst dazu. (Ausserdem wird dieser Glaube durch die Tatsache verstärkt, dass das Verhalten kollektiver Konsumenten fast unmöglich einzudämmen ist, aber das ist eine andere Geschichte, zu der ich irgendwann noch etwas schreiben will.)
Das Truman-Show-Szenario hat nämlich seinen ganz eigenen Reiz und der unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von einer typischen Überwachungsdystopie wie sie etwa in 1984 angedroht wird.
Ohne zu sagen, was dieser Reiz ist, wage ich zu behaupten, dass es derselbe ist, der auch den Film und die Buchserie Die Tribute von Panem auszeichnet.

Die Tribute von Panem

Das ist natürlich viel gesagt, denn vieles an diesem Film beweist sich als reizvoll.
Um es zusammenfassend zu sagen: Diese Geschichte ist frisch aus der Taufe postmoderner Trivialliteratur gehoben – und bei allem Respekt für verschiedene Geschmäcker und Diskursverschiebungen in Zukunft: Hier zeigt sich, dass die Unterhaltungsliteratur viel gelernt hat.
Es wird mit diesem Buch keinen Harry Potter-Effekt geben. Dafür sind der Plot viel zu lasch und die Persona zu charakterschwach.
Es wird auch keinen Twilight-Effekt geben. Dafür ist der Film zu gut, der Plot zu schnell und überhaupt. (Obwohl vielleicht die älter gewordenen Mädchen in die nächste Sci-Fi-Kundennische springen?).
Auch das ist viel gesagt, wenn man das Buch nicht gelesen hat. Ich habe bloss den Film gesehen. Das tut der Tatsache aber keinen Abbruch, dass ich trotzdem recht habe.
Der Tribute von Panem-Effekt ist aber ein ganz anderer: er ist ein Konglomerat, brüchig, spröde und auf keinen Fall bahnbrechend – eher wiederholend, wiederkäuend und abgedroschen. Aber, um es in den ehrlich-lakonischen Worten Tonio Krögers zu sagen, der als alter Mann die schriftstellerischen Werke seiner Jugendzeit in einer Bibliothek entdeckt: „Das ist gut gemacht.“
Tatsächlich versucht die folgende Darstellung eine Genealogie aufzustellen, die alles andere als blöd ist, und die Ursprünge des Films genauer zeigt.

(via 9000)

Man kann dabei nicht den Einfluss des japanischen Thrillers Battle Royale überschätzen, mit dessen Verfilmung es auch nicht sehr weit her ist. Auch dort werden Jugendliche zum Töten erzogen und es gehört zu den wenigen Büchern aus Japan, die in der westlichen Spannungsliteratur Kultstatus geniessen.
Der neue Film trägt den schrecklichen Volltitel The Hunger Games: Die Tribute von Panem, der unweigerlich an die grossartige Anleitung zum Titel- und Filmbasteln erinnert – mit dem Unterschied, dass „Die Tribute von Panem“ für Hollywood beängstigend viel Latein enthält.

Ausgangslage:

Panem ist einer von 12 Distrikten, die zur Strafe eines vergangenen Putsches gegen das Staatswesen vom restlichen Land und vornehmlich der herrschaftlichen Gewalt der Hauptstadt, des sogenannten Kapitols, unterdrückt werden. Die Distrikte arbeiten hart für das Kapitol, leiden aber an Hungersnöten und weiterem Elend. Minderjährige ab dem 12. Lebensjahr können durch ein pervertiertes ökonomisches System, bei dem sie die Wahrscheinlichkeit gewählt zu werden als Bezahlung für Esswaren erhöhen müssen, dazu erkoren werden, bei den alljährlich stattfindenden „Hungerspielen“ mitzumachen. Dabei werden pro Distrikt ein Junge und ein Mädchen in die Truman-Show-Kuppel gebracht, wo nach zwei Wochen der Sieger gekrönt werden sollte: Der letzte Überlebende.

Das ist lediglich eine Erklärung der Verhältnisse dieser Zukunfswelt. Die eigentliche Geschichte selbst ist noch gemixt mit einer Roten Zora-artigen Mädchenheroisierung, einem überstilisierten und halbmoralischen Aussenseiter-Pathos, zweier Harry Potter-ähnlichen Vaterfigurationen (da der Tod des biologischen selbstverständlich eine Lücke hinterlassen hat) und zu guter Letzt einem Twilight-verdächtigen Zwist zweier gutaussehender, aber gegensätzlicher Jungs, die sich um das Mädchen reissen.

Juvenales feuchter Traum

Zurück zur Truman-Anekdote und der Frage danach, was genau faszinierend und beängstigend an dieser Geschichte sein könnte. Ich spreche bewusst nicht vom „Film“, denn der Film ist bei weitem nicht so beängstigend wie er sein dürfte. Immer wieder werden Szenen mit pseudoerotischem Pathos übergossen und brav nach jedem Anflug von Gewalt, auch das gehört leider zur „Das ist gut gemacht“-Eigenschaft, wird dem Elend mit einem kleinen persönlichen Erfolg oder einer neuen helfenden Hand entgegengesteuert.
Die Geschichte jedoch ist, wenn man sie hinter diesen kitschigen und seichten Ausflügen nicht aus den Augen lässt, beklemmend und verstörend, vor allem für Truman-Geschädigte.
Die Sache mit den Hungerspielen ist nämlich umso verzwickter, je unklarer ihre Motivation ist. Die historische Motivation ist überzeugend: Es ist ein politisches Instrument, dass sowohl Bestrafung wie auch Unterdrückung der aufmüpfigen Distrikte vorsieht. Ganz nach dem minotaurischen Vorbild der Tribute von Knaben und Jungfrauen. Doch das ist nicht genug – die Menschen, die sich diese Hungerspiele auf dem Fernseher ansehen, haben keinen Hass oder keine Angst vor diesen Kindern. Es scheint eher so, dass das, was als Tradition gilt, in einem gewissen rituellen Rahmen auch Spass machen kann. Es wird zu einem Fetisch. Die Minderjährigen werden zu einer seltsam verstörenden Aufgeilung eines unterhaltungssüchtigen Publikums bis in den Tod getrieben.
Auch hier gilt, wie bei Truman:
Die ganze Lage dieser Kinder ist erst grausam, weil alle Menschen sich die Spiele ansehen, und diese sehen sich die Spiele an, weil die Lage dieser Kinder so grausam ist.
Wie harmlos wäre ein solches Spiel, wenn es nicht zur Belustigung und Unterhaltung produziert würde, etwas, wovon man im Fernseher vielleicht wegzappen und wohin man wieder zurückschalten kann?
Natürlich könnte man von panem et circenses-Zuständen jammern, die Juvenale bereits in der Antike vorgejammert hat. Die offensichtlichen Bezüge der Geschichte auf dieses römische Bild kann man kaum übersehen. Vom Kapitol als mächtige Hauptstadt, die ihre Provinzen unterdrückt, über di
e Begriffe „Tribute“ und „Panem“ bis hin zum Berater Seneca, der in einer Szene im Garten den Präsidenten begleitet.

Seneca der Jüngere war nach einer schriftstellerischen Karriere der Erzieher und Begleiter von Nero geworden, dem grössenwahnsinnigen Kaiser, der Rom angezündet haben soll, und blieb bei ihm bis zu seinem Selbstmord, den Nero ihm befahl, weil er ihn an der Teilnahme an der pironischen Verschwörung bezichtigte. Nero selbst galt als Kunstliebhaber und trat in fast allen grösseren Veranstaltungen – circenses – auf, in Theatern, Wettkämpfen und -spielen. In alldem stimmt die Geschichte mit den historischen Berichten überein.


So könnte man das natürlich als einen historischen Mix betrachten, bei dem antike Zustände in die Zukunft projieziert werden oder als eine Gemahnung an die schrecklichen Schaulust unserer skrupellosen Vergangenheit.
Aber das ist kein gutes Beispiel. Viel zu weit weg fühlen wir uns bereits von den Gladiatorenkämpfen und ihrer rohen Gewalt, dem sexuellen Aspekt halbnackter, muskulöser Männer, die ums Überleben kämpfen, dem exotischen Flair von kämpfenden Tieren und dem pompösen Charme eines grossen Spektakels – darüber glauben wir alle längst weg zu sein.
Sprechen wir lieber vom Supertalent.
Das steht der Sache in Grausamkeit in nichts nach.

Die Schaulust und das Saysche Theorem

Dass Schaulust einen grausamen und gefährlichen Aspekt hat, ist ein Allgemeinplatz – alles was mit Lust in irgendeinem Sinn zu tun hat, tendiert zum Fremden, Bösen oder Grausamen. In der Art, wie Schaulust jedoch zelebriert wird, liegt eine besondere Brutalität. Eine nach Sayschem Vorbild ausgerichtete Dialektik von Nachfrage und Angebot bringt Moralität ins Schwanken, in dem die Nachfrage das Angebot nicht bestimmen kann – wie das heute noch immer mit grosser Überzeugung geglaubt wird. In einer sehr treffenden Stelle am Anfang des Films fordert einer der beiden gutaussehenden Jungen die Protagonistin dazu auf, dass sie diesmal die Spiele nicht sehen sollten. Das sei es ja gerade, was die Hungerspiele aufrecht erhalte.
So recht er damit hat, so wenig funktioniert das. Weder durch Enthaltsamkeit noch durch Boykott kann eine solche Sendung abgesetzt werden. Im Gegenteil: Je mehr Menschen sich darüber beklagen, dass MTV keine Musikvideos mehr bringt, desto mehr Reality-Videos werden gezeigt. Die Mechanismen mögen durchaus von den Konsumenten abhängig sein, aber sie sind es keineswegs so zwingend wie man glauben möchte.

Die Vermenschlichung der Gewalt gipfelt in einer Szene, die sich – hallo Rom – die Ceasar Flickermann Show nennt. Ein zutraulicher und eigentlich freundlicher Moderator lotst die Kinder in einer zutraulichen und eitlen Art durch eine Show, in der sie vor Publikum blossgestellt und gezwungen werden, Emotionen zu wecken, um Sponsorengelder einzutreiben.
Wer findet, dass diese Grausamkeit, die sich im Angesicht einer Todesdrohung an seichtem Witzeln ergötzt, nichts mit der Grausamkeit von Das Supertalent oder DSDS zutun hat, täuscht sich.
Als stärkstes Argument dafür braucht man sich lediglich die Kommentare zu diesem Youtube-Video anzuschauen, in denen über 140 Personen den Wunsch äussern, diese Show solle tatsächlich existieren.

Kibernetik zweiter Ordnung

Und damit komme ich zum zentralen Element dieses Films.
Ihn zu sehen hat mich lächerlich stark gequält, wie damals die Truman-Show. Es gibt keinen Grund sich so in etwas hineinzusteigern.
Was aber das Bedrückende ist, ist die Selbstbetrachtung. Wenn man als Zuschauer in diesen Film geht, wird man irgendwann merken, dass man als Zuschauer sich selbst betrachtet. Der Zuschauer ist ein Mitglied des Kapitols und woran sich diese Zukunftsmenschen, die man so grausam finden kann, aufgeilen, ergötzen und laben, ist genau dasselbe weshalb wir heute ins Kino gehen und Die Tribute von Panem sehen – ein bisschen Gewalt, ein paar Emotionen, das Grausame einer Überwachungsgesellschaft und das Interesse daran, nicht hinter anderen Zuschauern zurückzubleiben.
Wir werden zu Beobachtern zweiter Ordnung, sehen fiktive Zuschauer, die die Hungerspiele sehen wollen. Doch auch wir wollen die „Hungerspiele“ sehen. Wie es in der ebenfalls sehr aktuellen Verfilmung von We need to talk about Kevin heisst: „It’s gotten so bad that half the time people on TV, they’re watching TV.“

Wir sehen nicht irgendeine Form von abartendem Publikum, wir sehen uns selbst. Wir beobachten auf zweiter Stufe Beobachter erster Stufe.
Aber das ist noch nicht der Punkt. Sich selbst in Büchern oder Filmen zu beobachten, das gehört dazu. In geschickten Filmen wird das bewusst so inszeniert. Dieses subjektive Mise en abyme ist vielleicht gerade der Schlüssel zu dem, was man so fahl „Personifizierung“ nennt. Das Grausame ist nicht, dass wir als Beobachter uns selbst beobachten müssen. Es ist der Truman-Effekt:
Dass das Publikum im Kapitol sich als Beobachter glaubt, aber stattdessen nur selbst wieder in einer Kuppel lebt. Wir selbst – in diesem Publikum – werden unwissentlich gesehen von uns selbst, einem anderen Publikum. Sie sind selbst Täter und Opfer eines Spiels, wie ich als Zuschauer auch Opfer und Täter der Hungerspiele werde.
Und es stellt sich die alte Frage: Woran erkenne ich die Kuppel?

Eine Antwort zu „The Hunger Games: Die Tribute von Panem – ein postmoderner Horrorfilm”.

  1. […] letzte Woche sprach ich von der Kuppel als einem Element des Horrors. Die Kuppel hat mit der Big Brother-Idee […]

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