Über Wilhelm Meisters Lehrjahre

Der Zufall

Es fällt nicht schwer, die deutliche Überzahl des „Zufalls“ in den Seiten des sogenannten Bildungsromans zu entdecken. Oft genug werden plötzliche Veränderungen als „seltsamer Zufall“ beschrieben, aber auch Charaktereigenschaften haben den Ton des Zufälligen („Wie sie mir zuwider ist! recht meinem innern Wesen zuwider! bis auf die kleinsten Zufälligkeiten.“ S. 331)

Über weite Strecken werden Unterhaltungen über das Schicksal und die Stellung des Zufalls geführt. Die Frage ist, was denn hier und wo noch Zufall sei – berechtigt, denn die Fügung, die Schickung, die Notwendigkeit ist übermächtig und saugt in sich auf, was erklärbar ist. Dem Zufall bleibt wenig übrig im Rückblick und gibt immer mehr dem Schicksal preis, bis am Ende alles irgendwie schicksalshaft, determiniert scheint. Am Ende lässt sich leicht sagen: Es musste ja so und so kommen. Und doch ist im Moment des Erfahrens das Überraschende doch immer zufällig genug.

Diese Einschnitte in das Vorbestimmte durch Zufälle ist freilich ein Hauptangelpunkt der Literatur, denn sie selbst ist ein Einschnitt in das Vorbestimmte – wer bräuchte Geschichten zu hören, die ohne Zufall auszukommen vermögen?

Das Fatum in der lateinischen Ependichtung ist die fügende Grundlage, die die Geschehnisse auf der bekannten Welt zusammentreibt. Sie ist das „Schicksal“ und herrscht über Menschen und Götter. Dies wird ganz besonders in Odysseen wie der Aeneis wichtig, wo die Helden aus dem Zuständigkeitsbereich eines Gottes in einen weiteren wandern, ohne ihre Bestimmung zu verlieren, und manchmal voller Unvorsicht – oder zufällig – von Neptun in einen Sturm getrieben werden. Das Fatum zeichnet selbst den Göttern vor, wie sie sich einzufügen haben. Doch diese haben die Möglichkeit, dagegen zu kämpfen, sie sträuben sich, zögern Vorbestimmtes hinaus, und erschleichen sich oft mit Kompromissen und Intrigen Macht über dieses so undeutliche Fatum. Das Fatum kann missachtet, beschnittet, verstümmelt, und doch nie ganz umgangen werden.

Ob es mit dem Schicksal und dem Zufall ähnlich ist? Der Gesprächspartner von Wilhelm Meister trennt noch rigoroser:

Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiss sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiss sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen […] Wehe dem, der sich von Jugend auf gewöhnt in dem Notwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zufälligen eine Art von Vernunft zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine Religion sei.“ (S. 71)

Diese Äusserung ist weit folgenreicher als bloss eine Trennung von Notwendigem und Zufälligen, die hier vorgenommen wird. In erster Linie ist diese Unterscheidung einfach zu fassen: ganz nach dem Prinzip des Deismus gibt es einen unerkennbaren Weltschöpfer, der den Grundstein des Daseins gelegt hat und über alles weitere entscheidet, wie ein unstet rinnender Tropfen, das Zufällige. Das wirft natürlich eine Reihe von Fragen auf, zum Beispiel: Ist das Zufällige nicht auch auf irgendeinen Daseinsgrund zurückzuführen, wie das die Lebnizsche Monadentheorie etwa behaupten würde?

Doch diese Frage ist einigermassen uninteressant.

Viel spannender ist jedoch die Tatsache, dass man sich „von Jugend auf“ an diese Trennung der Welt gewöhnt haben sollte – denn was von Jugend auf gilt, kann im Bildungsroman keine Station der Erkenntnis mehr bilden, viel mehr führt er von dieser Ausgangslage weg. Das Wissen, zwischen Notwendigem und Zufälligen zu unterscheiden, ist die Voraussetzung für Bildung und muss (oder sollte) Wilhelm bereits verinnerlicht haben.

Das bedeutet in einem weiteren Schritt, dass das Gespräch, das Wilhelm hier führt, überflüssig ist, Notwendigkeit und Zufall kann er längst unterscheiden – und die Drohung „Wehe dem…“ verkommt zu einer leeren Phrase. Wenn Wilhelm jedoch bereits die beiden Dinge einwandfrei unterscheiden könnte, wieso gibt es dann doch immer wieder Anlass, darüber zu diskutieren?

In einer späteren Phase von Wilhelms Reise trifft er auf einen „Unbekannten“, der ihm eine weitere Wahrheit ans Herz legen will, die sich auf den ersten Blick von der obigen zu unterscheiden scheint:

Das Schicksal“, versetzte lächelnd der andere, „ist ein vornehmer, aber teurer Hofmeister. Ich würde mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten. Das Schicksal, für dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben. Denn selten scheint dieser genau und rein auszuführen, was jenes beschlossen hatte.“

Hier wird der Zufall zum Instrument, sogar zum „Organ“ des Schicksals – wieder ähnlicher dem Fatum gibt es die Richtung vor, dem der Zufall entlang mäandriert, „ungelenk“ bleibt dieser trotzdem, weil er nicht „rein“ ausführt, was das Schicksal beschlossen hat.

Das ist keine Trennung mehr der beiden Dinge, sie fliessen ineinander und sind aufeinander angewiesen – was für eine seltsame Hierarchie sich daraus aus Schicksal und Zufall ergibt! Denn noch die grösste „Weisheit“ ist dem „ungelenken Organ“ unterlegen und fordert zu einer ulkigen Zusammenhangslosigkeit oder wie es dem Maler in Emilia Galotti entfährt:

Ha! dass wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren! [… Ich erkenne], dass ich wirklich ein grosser Maler bin; dass es aber meine Hand nur nicht immer ist.“

Wie ernst man dieses Gedankenspiel nehmen will ist strittig, aber auf jeden Fall hängt eine Spur von Ironie daran: Maler ist eben, wer seiner Organe bis zur Hand mächtig ist. Ein Maler ohne Arm kann nur mit Mühe noch einer genannt werden. Gilt also nicht dasselbe für das Schicksal? Was ist also noch das Schicksal, wenn es die Macht über seine Organe nicht behaupten kann? Darf es noch so genannt werden?

So interessant dieses Problem in einer ausgiebigen Erörterung auch sein könnte, so interessant ist die Unwichtigkeit dieses Zitats im Buch. Wie beim vorigen zeugt auch dieses von seiner eigenen Redundanz: Der Ratschlag, man solle sich zum Umgang mit dem Schicksal an „die Vernunft eines menschlichen Meisters“ halten, ist dermassen hinfällig, dass er einem auf der Schädeldecke herumhüpft: Wilhelm Meisters einzige Vernunft ist jene des Meisters, eine andere steht im kraft seines Namens nicht zur Verfügung.

Es stellt sich die Frage: Wieso ist dieses Gerede über Zufall und Schicksal immer wieder Thema in diesem Buch? Und wieso gibt dieses Thema so unglaublich wenig zu diskutieren und argumentieren her? Ich meine das in einem ganz konkreten Sinn, der einem spätestens vor Augen tritt, wenn man die ausschweifenden Dialoge über das korrekte Schauspiel betrachtet – im Gegensatz dazu werden Kommentare zum Zufall, so oft sie auch geäussert werden mögen, beinahe widerstandslos abgetan.

Auf die Spitze getrieben wird der Satz des Unbekannten schliesslich von der Entgegnung Wilhelms, der ganz zurecht erwidert:

Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen“, versetzte Wilhelm.

Das Geniale und ausgesprochen Faszinierende an diesem Kommentar ist seine Umständlichkeit: Es scheint nicht ein sonderbarer Gedanke, es scheint auch nicht, einer zu sein, sondern es scheint, ein sonderbare Gedanke sei ausgesprochen worden. Noch mehr: das Aussprechen des Gedankens braucht für sich selbst gar nicht sonderbar zu sein, vielleicht erstaunt diese Rede vom „ungelenken Organ“ und der „Weisheit des Schicksals“ Wilhelm keineswegs, sondern scheint lediglich auf einen sonderbaren Gedanken dahinter hinzuweisen, wobei uns über die Gründe zu einer solchen Vermutung Wilhelm im Dunkeln lässt.

Dieses Dunkel ist beklemmend, denn wie gesagt ist nicht klar, welche Relevanz dieses Gespräch für Wilhelm hat. Stimmt er der Behauptung zu? Ist er abgeneigt? Widerstrebig? Oder noch im Begriff überzeugt zu werden? Oder ist Wilhelm vielleicht dieser Satz völlig gleichgültig und seine Antwort ist mehr ein ermüdetes, mechanisches Gebrabbel?

Schliesslich lässt sich nur festhalten, dass die Bedeutung dieses ganzen Geschwätzes unsicher, irgendwie verworren ist – und dass diese Verworrenheit für die Geschichte insgesamt ihre Relevanz haben könnte.

Ausserdem ist der Satz reflexiv – der Gedanke, den Wilhelm in diesem Moment wiedergibt, scheint, in der Gewundenheit der Formulierung, im Herumdrucksen, genauso seltsam und undurchsichtig ausgesprochen, wie er den seines Gegenübers quittiert. Er spricht seinen Gedanken sehr sonderbar aus und er scheint einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen.

Die Kuppel und der superauktoriale Stil

Bereits letzte Woche sprach ich von der Kuppel als einem Element des Horrors. Die Kuppel hat mit der Big Brother-Idee von Überwachung vieles gemeinsam, doch fungiert sie nicht im Namen eines totalitären Regimes oder eines Gesetzes, sondern wird durch die Macht gleichwertiger Menschen ausgeführt. Ihr Prinzip ist das Prinzip der Schaulust und das macht sie so gewalttätig. Beispiele dafür waren die Macht des Kapitols in den Hunger Games über die sterbenden Kinder und der Zuschauer über Truman.

In beiden Beispielen war das entscheidende Mittel das quotenbasierte Fernsehen, das sich dem Prinzip der Unterhaltung verschworen hat. Den Menschen gefällt es: Hier wird Gewalt nicht unberechtigt angewandt – und trotzdem ist es Gewalt in ihrer gröbsten Art.

Um das Problem noch einen Schritt weiterzudenken, wollte ich zeigen, dass sich die Kuppel weitaus grösser fassen lässt, als auf den ersten Blick zu denken. Die Filmzuschauer oder Buchleser von den Hunger Games sind ebenfalls Täter und Zuschauer.

Das war ein Beispiel dafür, dass dieses Prinzip der Kuppel, so pessimistisch und überhoben es scheinen mag, sich sehr gut für weitere Analysen eignet. Bei Wilhelm Meister geht es um einen ganz besonders interessanten Fall der Kuppel, der häufig ist, aber nirgends so meisterhaft gebrochen wird wie hier:
Es geht um die Macht, die der Autor über seine Figuren hat. Der schöpferische, allmächtige Autor schafft seine Figur, die er so menschlich wie möglich gestaltet: er gibt ihr Schwächen und Stärken wie einer echten Person – und doch wird er diese Figur niemals völlig frei lassen können. Im Gegenteil: Er inszeniert Probleme, Lösungen, er lässt seinen Helden über Hindernisse stolpern und ihm Erfreuliches zustossen.

Auch das ist eine Form der Kuppel in ihrer Abgeschlossenheit. Der Protagonist muss einen Hindernisparcour absolvieren, er ist das zentrale Element einer ganz bestimmten Experimentiervorrichtung. Die Kuppel ist hier das Reagenzglas, in dem Autor, aber vor allem Leser die Figuren beobachten können.

Die Macht, die dieses ungleiche Verhältnis, Autor und Lesern einräumt ist unfassbar gross und gewalttätig. Schreiben ist eine amoralische Tätigkeit. Gewalttätig ist sie vor allem deshalb, weil es zu einer guten Geschichte gehört, dass der Protagonistin etwas Unangenehmes oder sogar Schreckliches zustösst. Dieser Erwartungshaltung von Leser und Absicht von Autor ist der Protagonist nicht gefeit – er weiss ja nicht direkt, dass er geschrieben wird.

Perfekt persifliert wurde das von Daniel Kehlmann in einer Geschichte von Ruhm, wo dieses Machtverhältnis versöhnlich wird. In Rosalie geht sterben bittet die Protagonistin immer wieder den Erzähler, sie nicht sterben zu lassen, wogegen er schliesslich nachgiebig wird.

Weitaus grausamere Beispiele sind nicht zu leugnen. So ist in Berlin Alexanderplatz die Absicht der Erzählers ganz deutlich: Er sagt, Franz Biberkopf sei erfunden, und kündigt gleich zu Beginn schon an, dass das Schicksal diesem dreimal „an den Karren“ fahren wird.

Ganz besonders extrem wird diese Situation schliesslich im „Bildungsroman“ (woran Berlin Alexanderplatz selbst wieder angelehnt ist), wo der Protagonist immer wieder gegen Wände anrennen muss, um im weiteren Verlauf des Buches zu lernen. Die Bildung ist ein langer Weg und auch der Leser muss ihn verfolgen können, um selbst gebildet zu werden. Deshalb verspricht ein Bildungsroman Ungutes für seine Hauptfigur, und auch wenn dieser am Ende zu einem gebildeten und oftmals auch glücklichen Zustand geführt wird, wird dadurch die Brutalität nicht geschmälert, die zur Erreichung dieses Zustands nötig ist. (Der Bildungsroman unterscheidet sich vom Coming-Off-Age durch seine stärkere Orienterung nach einer geistigen Reife des Protagonisten und gilt als typisch „deutsch“. Dass ausgerechnet eine Romanform, die das Gewaltverhältnis dermassen impliziert, typisch deutsch sei, will bei doppelter Überlegung eigentlich gar nicht so sehr überraschen.)

Diese Versuchsanordnung wird dadurch hervorgehoben, dass der Erzähler stark auktorial agiert. Immer wieder greift er ein, lässt aus oder wechselt die Perspektive. Er zeigt, dass es nach seiner Nase läuft und gibt seinem auktorialen Erzähler einen Aspekt, den ich gerne superauktorial nenne.

Der superauktoriale Stil kommt in vielen Geschichten vor, die besten Beispiele dafür sind Gogols kurze Novellen, wo sich der Verlauf der Geschichte bis zum äussersten in die Launen des Erzählers fügen muss. Ein klares Beispiel für einen superauktorialen Erzählstil, der sich auch seiner Übermacht und Willkür auf hämische Art bewusst ist, findet sich in Jelineks Lust, wenn die Erzählerin sagt: „Heute haben wir schönes Wetter, bestimme ich jetzt einfach Mal.“

Wenngleich es beim Wilhelm Meister nicht so deutlich zu Tage tritt, so ist doch der „Bildungsweg“, der für Wilhelm vorgezeichnet wird, ein Zeichen seiner Unterlegenheit. Es geht nicht lange, bis Wilhelm dieser grausamen Sklaverei gewahr wird.

Die Ahnung meines schülerhaften Wesens

Das allererste Anzeichen dafür, dass Wilhelm sich bewusst wird, in einer Kuppel zu stecken, ist seine regelmässige Auseinandersetzung mit dem Zufall und dem Schicksal, die ich vorher bereits anführte. Ausserdem aber gibt er im Laufe des Buches immer konkretere Hinweise, auch wenn er sie nur im Gespräch mit anderen Menschen äussert, so sagt er zu Aurelie in einer, wie ich finde, sehr zentralen Stelle:

Die Ahnung meines schülerhaften Wesens, werte Freundin“, versetzte er, „ist mir öfters lästig.“ (S. 267)

Es ist eine Ahnung, die Wilhelm hat, eine Ahnung oder ein Stutzen. Wie Jim Carreys Truman, der in der Truman-Show plötzlich zu stutzen beginnt als ein Scheinwerfer vom Himmel fällt. Wilhelm begreift seinen Weg als Bildungsweg, noch lange bevor er gebildet ist. Er versteht, dass etwas passiert, unsicher darüber, weshalb es passiert – aber er kann es bereits bewerten. Es ist ihm lästig.

Natürlich ist ihm die Bildung lästig, denn sie wartet, so gut sie es mit ihm meint, mit Verlusten und Rückschlägen auf. Wilhelm beweist hier viel mehr als ein dumpfes Gefühl. Er übt Kritik an seiner Herrschaft, er übt Kritik am superauktorialen Autor. Und auch Kritik am Leser.

Die depressive Aurelie, die im Laufe der Geschichte erhofft stirbt, muss sich für ihren Tod willentlich den Aufmunterungen ihrer Mitmenschen entsagen. Sie kämpft dafür, aus der Kuppel zu scheiden. Sie bildet mit Wilhelm das stärkste Team gegen Goethes Erzähler und hinterfragt immer wieder die grossen Geschehnisse, die sich in der Kuppel abspielen.

Mit ihrem brillanten Blick für die Welt gibt sie vor ihrem Ableben dem ganzen Experiment, von dem sie selbst ein Teil ist, den Todesstoss und schlägt einen gefährlichen Riss in die Kuppel, indem sie ausruft:

[…] wahrhaftig als Mädchen von sechszehn Jahren war ich klüger, als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich selbst kaum verstehe. Warum sind wir so klug, wenn wir jung sind, so klug um immer törichter zu werden!“ (S. 262)

An dieser kritischen Stelle lässt der Erzähler ein lärmiges Kind eintreten, das dort nichts zu suchen und für den weiteren Verlauf der Geschichte keinen Wert hat. Es zerstört die Spannung, die sich in diesem Moment aufbaute, in dem das ganze Prinzip der Bildung umgekehrt wurde und auf den ich meine Behauptung stütze, beim Wilhelm Meister handle es sich um einen Anti-Bildungsroman.

Es scheint, als hätte der Erzähler hier hineinpfuschen wollen, um nichts zu verraten. Wie Trumans Flüge gestrichen werden, wenn er die Kuppel verlassen will und Kathniss Everdeen von den Grenzen der Kuppel durch ein künstlich arrangiertes Feuer weggelockt werden muss.

Was wäre passiert, wenn dieses Kind nicht hereingeplatzt wäre? (Übrigens auch bei Kafka, dem grössten Kläger gegen Autoritäten, spielen die Kinder ständig die Rolle von Quälgeistern und Störenfrieden). Ich wüsste es gerne, aber das Experiment lässt sich nicht wiederholen.

Wilhelm und Aurelie werden dadurch unterbrochen und verstummen. Wilhelm, durch diesen Einbruch von erzählerischer Gewalt vorsichtig gemacht, nimmt eine geniale Strategie in Angriff, indem er sich indirekt gegen der Erzähler wenden kann. Wilhelms Reaktion spricht jedenfalls wieder Bände:

Sie stockte und schwieg. Ihr Freund, der nichts Allgemeines sagen wollte und nichts Besonderes zu sagen wusste, drückte ihre Hand und sah sie eine Zeitlang an. Endlich nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf, das er vor sich auf dem Tischchen liegen fand; es waren Shakespeares Werke, und „Hamlet“ aufgeschlagen. (S. 262f)

Hamlet

Hamlet spielt im Wilhelm Meister eine ausgesprochen grosse Rolle und ich werde erklären, dass das auf die Kuppel zurückzuführen ist. Hamlet gilt für Wilhelm nicht nur als grandiose Verkörperung des englischen gegenüber dem französischen Theater, sondern sieht sich auch in der Hauptfigur Hamlet selbst verkörpert, in dessen Rolle er auf der Bühne selbst schliesslich schlüpft.
Und Hamlet ist das grosse Instrument, das Wilhelm gegen seinen Erzähler zur Hand hat.

Es ist ganz erstaunlich und faszinierend, was hier passiert.

Wilhelm begleitet ein Theater und schlägt ihm zur Aufführung Hamlet vor, das ihm zuvor von Jarno empfohlen wurde und das er mit Begeisterung aufgenommen hat. Dabei spielt er einerseits die Figur Hamlet selbst, schneidert aber andererseits auch am Stück herum, denn ihm fällt die Aufgabe zu, den Text nicht nur auf Deutsch zu übersetzen, sondern auch rigoros zu kürzen: „Zu dieser ekelhaften Verstümmelung zwingen uns die Autoren und das Publikum erlaubt sie.“ (S. 306)

Bemerkenswert ist das gerade deshalb, weil in dieser Form Hamlet regelrecht gegen das Stück revoltiert, Hamlet selbst also, der unfähig zur Handlung ist und wie kein zweiter Charakter in der Literatur den Zufällen unterworfen ist. In Wilhelms Worten:

Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer. Das Unmögliche wird von ihm gefordert, nicht das Unmögliche an sich, sondern das, was ihm unöglich ist.“ (S. 254)

Hamlet, der in einer Situation aufwacht, in der nur eine Devise gilt: „The time is out of joint“, ist darauf angewiesen, die Sache wieder zu richten. Doch das ist nicht so einfach, denn Zufälle reihen sich an Zufälle. Wenn man eine Unterscheidung von Notwendigkeit und Zufall machen wollte, so wäre Hamlet ein extrem gegenüber dem Bildungsroman – und doch ist Hamlet eine Figur der Tragödie. Auch er stirbt und es gibt eine Reihe von Literaturwissenschaftlern, die sagen, es musste so kommen.
Dies scheint auch Wilhelms Interpretation zu sein, indem er sagt: „der Held hat keinen Plan, aber das Stück ist planvoll.“ (S. 263)

Meine Meinung ist anders. Ich glaube, Hamlet ist ein Beispiel für eine Geschichte, die wirklich fliegt, die nicht arrangiert ist. Das Stück ist nicht planvoll. Doch das begreift auch Wilhelm. Er sagt:

Ich bin weit entfernt, den Plan dieses Stücks zu tadeln, ich glaube vielmehr, dass kein grösserer ersonnen worden sei; ja er ist nicht ersonnen, es ist so.“ (S. 263)

Es ist so“ – ein Fingerzeig auf Wilhelms Erzähler, der die Wahl hat: Er könnte Wilhelm auch in Frieden lassen. Hamlet kann nicht in Frieden gelassen werden, weil er nicht in einer Kuppel lebt.

Für Hamlet hat das selbstverständlich auch seine Schwierigkeiten. Die Ausmasse der Zufälle sind unersichtlich und es erscheint keinen grösseren Zusammenhang zwischen ihnen zu geben.

Das stört Hamlet, indem er im Stück ein weiteres Stück arrangiert – durch ein Theater im Theater baut er sich eine Kuppel und hofft, darin seinen Gegner, Claudius, einzusperrren. Hat er ihn erst einmal in der Kuppel, das weiss auch Hamlet, kann man mit ihm alles anfangen.

Wilhelm baut sich ebenfalls eine Kuppel. Er will Hamlet spielen, das Stück ohne Grenzen, und beweist sich plötzlich selbst als grober Schlächter und machthungrig: Mit riesigen Schwerthieben kürzt er, was ich für unverzichtbar halte, aus dem Stück: Die Unruhen von Norwegen, den Krieg mit Fortinbras, die Rückkehr des Horatio, der Zug von Fortinbras nach Polen, Verschiffung Hamlets nach England und seine Gefangenschaft bei den Piraten – kurz: alles, was so verwirrend und mühsam im Hintergrund geschieht, wird zusammengefasst.

Er konstruiert damit wieder ein Reagenzglas, eine Versuchsanordnung, in der Hamlet als ein Einzelner, einsam und ohne das Dazwischenfunken undverständlicher Zufälle gedeihen kann, ähnlich wie Wilhelm selbst in der Geschichte gedeihen soll.

Wilhelm richtet sich selbst

In einem Brief, dessen Urheberschaft nie vollständig geklärt wird, erhält Wilhelm eine deutliche Aufforderung: „Zum ersten- und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh!

Doch Wilhelm ist es unmöglich, die Kuppel zu fliehen. Dessen wird er sich sehr bald bewusst. Während der Veränderungen von Hamlet aus seiner Hand, bemerkt er, dass die Kürzungen vieles zerstören, was dazu gehört. Und es wäre nichts Falsches gesagt, wenn man Wilhelm in den Mund legen wollte, dass er sich selbst richtet und schliesslich verurteilt. Er begreift sich immer mehr als Teil der Geschichte und versteht das Experiment als Notwendigkeit.

Hier lüftet sich auch der Schleier um den Zufall und das leere Gerede, das sich im Buch darum erhebt: Zufall und Schicksal spielen keine Rolle in einer Welt die superauktorial regiert, in der Performanz des Erzählers gelenkt wird. Innerhalb der Kuppel scheint alles Zufall. Ausserhalb der Kuppel scheint dasselbe Schicksal.

Zwar schaffen es Truman und Kathniss aus der Kuppel. Doch ihre Kuppel wird nicht von einem so virtuosen, so gewitzten Erzähler kontrolliert wie Goethe ihn erschaffen konnte. Er ist überlegen, mächtig und unbesiegbar. Jeden Angriff pariert er mit einem weiteren Pfeil aus dem Köcher intelligenter Erzählmittel. Und er scheut aus didaktischen Gründen nicht davor zurück, immer wieder seinen Protagonisten aus höchster Höhe zu Fall zu bringen.

Der Name Meister ist für Wilhelm pure Ironie, bleibt ihm doch wenig Selbstbestimmung, von Bestimmung über andere ganz zu schweigen, übrig. Und doch findet er in dem märtyrischen Glauben, die Hauptrolle in einem Experiment zu spielen – ganz gleich ob es Bildungs- oder Anti-Bildungsroman wird –, nachhaltigen Trost. Und so richtet Wilhelm, viel subversiver noch, als es der Urtypus Ödipus getan hat, über sich selbst und kommt zu einer klaren Verurteilung:

Wir wünschen auch, dass ein braver, nützlicher Mann, der an einer chronischen Krankheit stirbt, noch länger leben möge. Die Familie weint und beschwört den Arzt, der ihn nicht halten kann: und so wenig als dieser einer Naturnotwendigkeit zu widerstehen vermag, so wenig können wir einer anerkannten Kunstnotwendigkeit gebieten.“ (S. 327)

Und ich bin mir sicher, Wilhelm Meisters Blick schiesst bei diesen Worten an die Decke der Kuppel.

Eine Antwort zu „Über Wilhelm Meisters Lehrjahre”.

  1. langä text, chliini schrift – kei guäti mischig für mich

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