Herrisch hob sie die Hand. Die Studenten verstummten sofort und rückten auf den Stühlen zurecht. Niemand hatte sie anschleichen hören und nun stand Prof. Raifer-Kurz vor ihrem Pult mitten im Zimmer mit etwas zu aufrechten Schultern, einem ihren Zuhörern günstig gewogenen, weiten Blick, den sie sich mit den scharf nach unten gezogenen Augenbrauen aus den Pupillen presste. Einen Stapel Bücher vor dem Bauch umschlungen, liess die Professorin sich galant auf ihrem Stuhl nieder, wobei sich ihr schweres, geplustertes Kleid sachte bauschte.
“Ich freue mich, dass Sie alle da sind”, verkündete sie und lächelte. Zwar waren nicht wirklich alle Studenten da (Elvira litt unter einer “schweren Magenverstimmung” und Pirmin war zum wiederholten Male unabgemeldet absent), aber andererseits freute sie sich auch nicht, was die Sache wieder richtete. Sie sprach freundlich, aber monoton, was ihre Zuhörer stets zu einem sanften, schläfrigen Lächeln hinreissen liess. Man mochte ihre verständnisvolle und gutmütige Art, die, wenn auch leicht bemüht, nur von den besten Absichten zeugten.
“Sie haben den Text von Bochmann/Werner 2011 gelesen. Ich würde gerne Herrn… Thayal — alin…gam und Frau Österreicher bitten, das einleitende Impulsreferat zu gestalten.“
Mit eingezogenem Kopf schlurfte der Referent nach vorne, hinter ihm her, leicht hüpfend, seine Kommilitonin, eine farbig eingebundene Mappe heftig in der Hand herumfuchtelnd. Mürrisch setzte er sich hinter das Pult. Seine Ohren ragten noch über die Schultern, während der Rest des Gesichts vor Gram und Unlust im Halsansatz versunken schien. Tamara Österreicher leckte sich vor Vorfreude über ihren Vortrag die Lippen, zurrte die selbst vertäuten Fäden auseinander und hob einen Stapel Papier aus ihrer farbigen, kunstvoll gebastelten Mappe. Die Professorin, die sich so lautlos, wie sie eingetreten war, an einen Seitenplatz begeben hatte und sich dort, bauschenden Rockes, galant niedergelassen hatte, seufzte innerlich ein wenig auf. Auf ihrem Gesicht aber zeichnete sich ein strahlendes Lächeln ab, das die zu ihr hinüberschielenden Studenten die Stirn runzeln liess. Noch immer befremdete diese der ungebrochene Frohmut ihrer Dozentin aufs Heftigste und sie brauchten jedes Mal aufs Neue einige Sekunden der Angewöhnung, bis sie einem solchen Lächeln glauben schenken konnten.
Während die Handouts verteilt wurden, ereiferte sich Tamara übermütig in ausgeschmückten Willkommensbekundungen und Beglückwünschungen und begann, nach einer schulgerechten Kunstpause, ihr Referat. Sie las mit näselnder, kindlich gelangweilter Stimme träge von ihrem Text ab, dessen kantiger Stil und abrupter Satzbau einem politischen Traktat nicht unähnlich war. Trotz dieser grossen Diskrepanz lächelte Prof. Raifer-Kurz unberührt und warf im Fünf-Sekunden-Takt Bekräftigungen ein. Das brachte Tamara Österreicher in Schuss, die nun, mit ständig befeuchteten Lippen, nuschelnd aus ihrem Pamphlet vorlas.
Das war Tamaras Stunde. Sie besass endlich ein Podium und konnte auf die Professorin einen gehörigen Eindruck machen. Schon lange hoffte sie bei ihrer liebsten Dozentin punkten zu können, um von ihr entdeckt, gefördert, vielleicht sogar zur Assistentin geschlagen zu werden. Bei Frau Raifer-Kurz fühlte sich die Scheue aufgehoben und sah ihre Zukunftschance. Aber es war ihr immer noch nicht recht gelungen, am Unterricht aktiv teilzunehmen. Kaum warf sie mit aller Mühe die Hand in die Höhe, die in der Hoffnung, doch nicht gesehen zu werden, gleich zurückschnellte, aber von der Professorin dann doch, mit einem breiten Lächeln, erwischt worden war, kaum war sie also so weit, schon klopfte ihr das Herz dermassen wummernd im Hals, dass nur noch halbe Worte hindurchkrümmelten.
Jetzt hingegen konnte sie die ganzen Sätze zähflüssig, aber bruchlos, durch den Hals hinausdrehen wie durch einen Fleischwolf. Ihr Banknachbar murrte grübelnd in seinem Schlüsselbein und argwöhnte — sobald auch er etwas zu sagen wusste — gegen nichts und niemanden gerichtet vor sich her, sodass alle froh waren, wenn der Missmutige verstummte und die neubenetzten Lippen von Tamara ihren unschuldigen Singsang wieder aufnahmen.
Heftig nickend, Zusprüche versetzend und am Ende des Referats laut klatschend unterstützte sie die Professorin. Diese glitt mit lautlosen Schritten zurück an ihren Platz und türmte einige Lobe aufeinander bis der Stapel nur Fingerbreit unter der Decke der Ironie zu liegen kam. Vor dem Ende der Lektion sagte sie.
“Ich bitte euch, mir auf nächste Woche einen 14-seitigen Essay abzugeben. Zu einem freien Thema.”
Die Studenten erstarrten. “Wir haben doch erst heute eine Hausarbeit abgegeben.”
Die Professorin blätterte den Stapel der neuen Papiere durch. Ihre Augen funkelten. “Das stimmt. Es ist aber wichtig, dass Sie alle in Übung bleiben.”
“Aber Frau Raifer — “, begann Jonathan, was die gesamte Aufmerksamkeit der Studenten auf sich zog, denn er besass Dreistigkeit genug, die gutmütige Professorin auszunutzen. “Das ist doch wirklich viel zu viel! In anderen Fächern müssen wir auch nicht so viel schreiben.”
Alle sahen die Professorin an und erwarteten, um wieviel sie nachgeben würde. Die Pessimisten unter ihnen rechneten mit einer Woche Verlängerung, andere waren überzeugt, sie würde es abblasen. Doch sie tat nichts dergleichen. Mit aufflammendem Blick sprang sie auf, wobei ihr bodenlanges Kleid erzitterte. Ihr Gesicht war rotgelb angelaufen und aus ihren Augen sprühten Funken gegen Jonathan. Mit furchtbarer Stimme grollte sie: “Ich heisse Raifer-Kurz, nicht Raifer! Und ich brauche zur Beurteilung diesen Essay, diesen, diesen 20-seitigen! …. Alle 20-seitigen Essays bitte bis nächsten Dienstag in meinem Büro. Ich hoffe, Sie haben mich richtig verstanden.”
Nur Tamara nickte beflissen und das Licht schimmerte in allen Stärken auf ihren feuchten Lippen. Lautlos schlich sich die Professorin aus dem Zimmer und liess die Studenten mit ihrer Entrüstung allein.
In der nächsten Woche erschien Prof. Raifer-Kurz mit dem gewohnten Lächeln. Am Anfang der Stunde liess sie die Essays einsammeln. Mit einiger Enttäuschung bemerkte sie, dass einige Hausarbeiten fehlten, doch sie bewahrte Ruhe und drohte unaufgeregt mit sofortiger Dispension, wenn nicht bis nächste Woche auch noch die restlichen Essays eintrudelten.
“Ausserdem”, fügte sie an, “erwarte ich, dass Sie mir alle eine schriftliche Hausarbeit von 5 Seiten bis nächste Woche nachreichen.”
Noch bevor die ungläubigen Studenten protestieren konnten, hatte sie das Zimmer verlassen und sich davon gestohlen. Jedoch sprach man sie nach einigen Tagen im Kaffeeraum auf ihre Unterrichtsmethoden an. Ein Professor zeigte sich sehr erstaunt und äusserte Besorgnis (er sagte: “ich will meine Besorgnis äussern”), dass das Pensum für die Schüler zu hoch im Verhältnis zu den ausgeschriebenen Punkten angesetzt scheine. Die Professorin krauste die Stirn und nickte nur still. Hinter der Fassade ihres eingefrorenen Lächelns und den geduldigen Augen klammerten sich die Gedanken jedoch nur an eine Hoffnung. Das war die Sprechstunde mit Tamara Österreicher, die sie festgesetzt hatte, um das einleitende Impulsreferat von letzter Woche zu besprechen.
Tamara hüpfte in das kleine Zimmerchen, wartete auf die Anweisungen der Professorin und setzte sich auf ein kleines Sofa in der Ecke, neben der liebevoll auf einem kleinen Couchtisch eine Kanne Tee hergerichtet war. Sie war noch nervöser als sonst und ihre Augen huschten über alle Gegenstände des Zimmers. Länger als gewöhnlich blieben sie an der Professorin haften, die abgenommen zu haben schien. Aus ihrem Gesicht traten die Knochen stärker hervor und ihre Hände erschienen ungewöhnlich klein. Doch sie wandte nach wenigen Sekunden den Blick ab.
“Haben Sie alles mitgebracht, was ich gesagt habe?”
“Ja, ich habe alles ausgedruckt”, antwortete die junge Frau und legte einen Stapel wissenschaftlicher Artikel hin. “Und ausserdem habe ich noch den Ausdruck meines eigenen Essays mitgenommen.”
“Sehr schön”, lobte die Professorin, “Genau wie ich es Ihnen gesagt habe. Über Ihren Essay wollte ich mit Ihnen sprechen.”
Gespannt blinzelte Tamara hinter ihrer Brille hervor.
“Das ist inhaltlich schon sehr gut. Wirklich… Aber es gibt doch einige Mängel, auf die ich hinweisen wollte. Und die Orthografie! Sie müssen sich das unbedingt vorher durchlesen lassen. Aber ich denke, dass man aus Ihnen noch viel machen kann. Und ich spreche mit Ihnen überhaupt auch nur, weil ich glaube, dass Sie sehr engagiert sind.” Ein überfreudiges Grinsen umspielte die nassen Lippen der Studentin.
“Am Besten wäre es, wir würden ein kleines Intensivtraining machen, bei dem Sie regelmässig Arbeiten verfassen und mir zur Kontrolle unterbreiten. Am besten jeden Tag!”
Tamara lachte. Als sie begriff, dass die Professorin ernst geblieben war, antwortete sie: “Ich kann es natürlich versuchen. Aber so produktiv bin ich nicht.”
“Genau, genau! Das ist Ihr Problem. Aber das einzige Problem! Schreiben Sie also ruhig ein wenig mehr und geben Sie es mir ab. Sie kennen ja die Regel: Unbedingt in gedruckter Form.”
Die Studenten fuhren in der nächsten Stunde noch heftiger zusammen, als die Professorin lautlos in der Mitte des Zimmers erschien, denn ihr Aussehen hatte etwas Erschreckendes angenommen. Ihre Augen schienen versunken in ihrem Gesicht und manchmal wühlte sie mit ihren Fingern darin, die an den dürren Armen sehnig und übermässig lang erschienen. Ihr Lächeln war nicht vom Gesicht gewichen, aber ihr langes Kleid passte nicht mehr zu ihr und schien etwas zu verstecken. Tamara wurde zur Assistentin berufen und ordnete die Arbeiten der Studenten auf einem Stapel, um sie der Professorin zu überreichen. Diese bedankte sich überschwänglich für die Hilfe und verstaute die Papiere schnell in ihrer Tasche. Den Rest der Stunde überliess sie den Studenten. Sie hörte mit zusammengekniffenen Augen zu, als hätte sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und sie flog geräuschlos aus der Tür, als die Lektion vorbei war.
Tamara besuchte die Sprechstunden fast täglich. Ihre Schüchternheit schwand mit jedem Eintreten in das kleine Zimmerchen, das nach Kaffee und Druckerschwärze roch und hinter den Bücherregalen leicht schimmelte. Prof. Raifer-Kurz las ihre Texte mit grösster Aufmerksamkeit. Sehr beeindruckt war ihre Studentin, wie munter und klug sie immer Antwort gab und sich freute, wenn sie neue Arbeiten erhielt, denn mittlerweile sah die Frau sehr krank aus, mager und bleich. Aus ihrem kargen Gesicht strahlten weiterhin die glühenden, warmen Augen, aber sie verloren sich immer häufiger in der Ferne, statt auf ihrem Gegenüber zu ruhen.
Tamara fürchtete sich um die Gesundheit ihrer Professorin. Irgendwann nahm sie all ihren Mut zusammen, feuchtete sich die Lippen an und fragte näselnd: “Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen so aus, als wären Sie krank oder so.”
Der Blick der Professorin wurde plötzlich streng und Funken sprühten unter den grimmigen Augenbrauen hervor. Doch nach einer Sekunde versiegten sie und Frau Raifer-Kurz nahm ihre gewohnte Gutmütigkeit an. Es schien ihr die Kraft zu fehlen, sich aufzuregen.
“Was solls…”, sprach sie zu sich. Und dann an Tamara gewandt: “Sie haben Recht. Ich habe ein Problem.”
“Was für ein Problem?”
“Ach, vergessen wir das… Etwas anderes. Ich mache jetzt ein kleines Experiment mit Ihnen.”
Tamara nickte bereitwillig. Die Professorin erhob sich lautlos, während sich ihr langes Kleid ein wenig bauschte. “Schliessen Sie die Augen und strecken Sie die Zunge heraus.”
Nach einigen Sekunden glaubte Tamara etwas auf der Zunge zu spüren. Zuerst bemerkte sie es nicht, weil die Zunge an der trockenen Luft taub geworden war, doch jetzt schien eindeutig etwas darauf zu liegen. “Was ist das?”, fragte plötzlich die sanfte, brüchige Stimme der Professorin.
Tamara zuckte mit den Schultern. Sie hatte beim besten Willen keine Ahnung, worum es ging. Sie schmeckte nichts, vielleicht… schmeckte es pappig oder metallen? Die Zunge schien ihr schon bald nicht mehr zu gehören, so viel Feuchtigkeit war schon von ihr verdunstet, doch sie traute sich nicht die Augen aufzumachen, und die Professorin fuhr fort. “Probieren Sie doch einen Unterschied zwischen dem vorherigen und diesem hier festzumachen.”
Tamara sog, sobald sie glaubte, dass die Zeit dafür gekommen war, gierig den Lappen ein, zu dem ihre Zunge geworden war. Sie fuhr mit ihm an den inneren Zahnreihen entlang und strich über die Lippen, bevor sie sagte: “Es tut mir leid, ich bemerke keinen Unterschied. Es schmeckt beides gleich.” Da sie nicht wusste, ob es sich um den Lieblingskuchen der Professorin handelte, sagte sie nicht: Nach Karton.
“Keinen Unterschied”, wiederholte die Dürre schnaubend und gebot Tamara, die Augen zu öffnen. Verärgert klopfte sie mit den Zeigefingern beider Hände auf verschiedene Papiere, die vor ihr lagen.
“Zwischen Heidegger und Karl May! Kein Unterschied!”, rief die Professorin aus. “Jeder kennt den Unterschied zwischen Heidegger und Karl May!”, doppelte sie nach und Tamara wollte sich schon verteidigen, als die Professorin plötzlich an den Blättern schnüffelte. Sie fuhr mit der Nase von unten bis an den Kopf des Blatts. Es war die erste Seite von Heideggers Sein und Zeit. Ihre Nase verharrte einige Sekunden in einer Anstrengung, als müsste sie den Geruch tief in jedem einzelnen Lungenbläschen versenken. “Schwer, holzig… schwebend zwischen säuerlich und bitter. Schwere Kost, sättigend”, sie nahm noch einen tiefen Zug, “dominant.” Sie lächelte. “Eindeutig Heidegger.”
Dann nahm sie das andere Blatt hervor und beschnupperte es. “Dies hingegen… luftig. Zart. Riecht ein bisschen nach Nadelwald. Auch rau, aber wilder. Angenehm und geniessbar.”
Tamara, die das alles für einen sehr ausgeklügelten Scherz hielt, hätte in diesem Moment losgelacht, wenn nicht die Professorin das Karl May-Blatt zerknüllt und sich kurzerhand in den Mund gestopft hätte. Sie kaute mit nachdenklichem Blick. Ihre Augen drehten sich ekstatisch nach oben und sie mampfte genüsslich viele Sekunden vor sich her, in denen Tamara nichts Besseres einfiel, als sich ab und zu die Lippen anzufeuchten. Sie wollte lachen, aber wieder setzte sich ihr ein Kloss in den Hals und sie blieb stumm, worüber sie heute gar nicht so unglücklich war.
Die Professorin ass auch den Heideggertext, aber langsamer und schwer atmend. Nach seinem Verzehr lehnte sie sich zufrieden zurück. “Es gibt so wenig Nahrhaftes, wissen Sie? Es ist eine Tortur.”
“Essen Sie etwa Texte?”, fragte Tamara rundheraus.
“Ja.” Die Professorin stutzte. “Sie etwa nicht?”
Tamara schüttelte den Kopf. Die Professorin starrte nachdenklich und vielsagend auf die Tischplatte.
“Eigenartig. Was machen Sie dann damit?”
“Ich lese sie. Menschen lesen doch Texte.”
Die Professorin schien nachzudenken. “Ja, lesen kann man sie freilich auch, aber man kann sie doch nicht verstehen, wenn man nur mit den Augen darüber gleitet, oder? Man muss es doch durchkauen, verdauen, sogar wiederkäuen.”
“Ich glaube, man kann sie lesen”, hielt Tamara überzeugt dagegen.
“Pff… Sie glauben … Sie, die einen berühmten Philosophen von einem trivialen Westernautor nicht unterscheiden können. Vielleicht haben Sie einfach nicht verstanden, wie man mit den Texten umgehen muss. Kommen Sie schon, nehmen Sie.”
Sie streckte der Studentin einen Bogen Papier hin. “Es ist leider nur die Seite aus einer Agenda. Aber probieren Sie doch.” Zögerlich nahm Tamara den Fetzen entgegen, den ihr die Professorin entgegenhielt, knüllte ihn zusammen und steckte ihn widerwillig in den Mund. Es schmeckte pappig und fade.
“Und, wie gefällt es Ihnen?”
“Na ja… Es schmeckt nicht so besonders.”
“Da haben Sie allerdings recht. Moment… Nehmen wir etwas, das mehr hergibt.” Sie wanderte vor ihrem Regal hin und her, seufzte irgendwann wieder “Was solls…” und zog ein Buch hervor, das sie auf den Tisch knallte. Zwischen den Deckeln waren nur noch eine handvoll Seiten eingebunden. “Hegel!”, rief sie triumphierend aus und lächelte. “Ich teile mit Ihnen diese wertvolle und sättigende Kost.”
Nachdem sie beide heruntergeschluckt hatten, versetzte Tamara bedauernd: “Ich erkenne immer noch keinen Unterschied.”
Die Professorin hüpfte geräuschlos auf, wobei ihr Kleid ein wenig flatterte, und fuchtelte wild mit dem Finger. “Sie! Sie Dilettantin! Ich bin am Verhungern und teile mit Ihnen die Phänomenologie des Geistes! Noch dazu die so deliziöse Einführung des Buches.” Ihr Lächeln war nun vollständig aus dem mageren Gesicht verschwunden.
“Verhungern? Brauchen Sie deshalb soviele unserer Texte? Um sie zu essen?”
“Natürlich! Wie soll man denn sonst über die Runden kommen? Es bringt nichts, gehaltlose Journale verschlingen zu wollen. Das laugt mich völlig aus. Und Bücher kann ich mir keine mehr leisten. Die Arbeiten meiner Studenten — sie mögen alle keine richtigen Literaten oder Philosophen sein — sind schon um Längen nahrhafter als die Gratiszeitungen, die man sich abends im Zug zusammenklauben kann.”
Beleidigt und verdrossen wandte sich die Professorin ab und wollte sich schon aus dem Zimmer schleichen, da sprang ihr Tamara nach. Sie hatte ein schlechtes Gewissen und fürchtete sich um ihre Zukunftsplanung, mit verzweifelter Anstrengung wollte sie die Professorin hier behalten.
“Ich meinte es doch nicht so”, rief sie und zerrte leicht mahnend am Rock, den sie gerade noch erwischte. Doch dann erstarrte sie und stiess einen spitzen Schrei aus. Unter dem bodenlangen Kleid entblössten sich die wulstigen, grünen Einzelsegmente einer fetten Raupe. Zwei Bauchbeine zappelten darunter. Frau Raifer-Kurz schrie ebenfalls auf, zog hastig den Rock über ihre Bauchbeine und glitt geräuschlos durch den Korridor davon. Das Kleid bauschte sich ganz leicht während dem zügigen Kriechen.
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