Dreieinhalb Jahre dauerte der Strafprozess, in den Daniel Saladin — vom Blick «Grüsellehrer» genannt — verstrickt wurde. Der Vorwurf: Er habe mit seinen Schülern und Schülerinnen am Literaturgymnasium Rämibühl pornografische Texte behandelt: «Frühlings Erwachen», «Warum das Kind in der Polenta kocht», «Dunkler Frühling», die «Selbstmordschwestern». In «Aktion S.» beschreibt er, wie der absurde Fall zustande kam, wie er ausging und zeigt etwas viel Wichtigeres: Er hat nicht Pech gehabt, es hat ihn nicht zufällig getroffen — die Justiz und unsere Gesellschaft haben ein enormes, strukturelles Problem.
Ich empfehle keine Bücher. Zumindest nicht der Öffentlichkeit. Dies hier ist die erste Ausnahme, die ich mache. Es gibt dafür vier Gründe.
Erstens, dieses Buch hat mich gefesselt. Ich habe es in 3 Tagen durchgelesen, weil es klar strukturiert und leicht geschrieben ist. Und weil es von so erschreckenden, erschütternden Dingen berichtet, dass es mich bis spät in die Nacht wach hielt.
Zweitens ist der erste Google-Treffer für das Buch zurzeit eine NZZ-Rezension von Brigitte Hürlimann. Diese Rezension ist dermassen schlecht, dass einem der Mund noch einmal aufklappt: Hat die Autorin das Buch wirklich gelesen? Und wenn sie es gelesen hat, wie kann sie noch solche Dinge behaupten? Sie stellt Saladin als unreflektierten Verbitterten dar, was grundfalsch ist: Verbittert mag er sein, aber bestimmt nicht unreflektiert. Viel schlimmer noch ist die Abschätzigkeit, mit der Hürlimann ihn zum Patienten macht und ihn als einzelnes Opfer einer «nicht immer gelungenen» Justiz darstellt. Sie nimmt hin, dass die Mühle der Justiz nicht immer flüssig läuft? Okay. Nur ist dieses Bild völlig falsch, wie man nach der Lektüre weiss. Es war nicht ein Schönheitsfehler der Justiz, der die Tragik von Saladins Schicksal ausmacht. Es sind das Auftreten und die Sprache der Justiz selbst, die ungeheuerlich werden: In diesem Verfahren gab es keine Fehler (schliesslich gab es für die Staatsanwaltschaft keine rechtlichen Konsequenzen). Alles lief, wie Justiz eben läuft. Und das hat Frau Hürlimann nicht verstanden. Ein gewisser Bernhard Heinser schreibt:
«Die Lektüre von Frau Hürlimanns Rezension hat mich dazu angeregt, das Buch von Herrn Saladin zu lesen. Entsetzt stelle ich nach der Lektüre fest, dass Frau Hürlimann dem Buch in keiner Weise gerecht wird.»
Und gerecht ist in dieser Sache ohnehin nichts. Wie etwa dieser Blick-Artikel, der nichts als bösartig ist. (Bemerkenswert, dass ausserhalb der Mainstream-Medien der Ton etwas anders ist. Wie z. B. hier.)
Drittens hat das Buch eine politische Dimension. Eine, die sich nicht um links und rechts oder um Parteien kümmert. Mich etwa warnt das Buch vor einer Präventionsjustiz, die bevorsteht. Sie droht aus so unterschiedlichen Ecken wie Neurologie und Big Data-Speicherung im Internet auf uns zuzukommen (immerhin wurde Saladin wegen gelöschten Bildern, die man aus dem Temp-Ordner rekonstruiert hat, verurteilt…). Es zeigt aber auch, dass wir, als Gesellschaft und jeder für sich, uns den Konzepten von Pädophilie, Sexualität und Kunst stellen müssen. Gerade die Pornografie als Strafbestand enttarnt Saladin unter Rückgriff auf die Gesetzestexte als widersprüchlich und zirkulär. Diese Stellen gehören mit zu den spannendsten. Nicht zuletzt wurden im Moment, als dieses Verfahren eröffnet wurde, wichtige kulturelle Werte preisgegeben: Wedekind, der Autor von Frühlings Erwachen, war in Zürich im politischen Exil, Warum das Kind in der Polenta kocht gehört zu den wichtigsten Schweizer Romanen des letzten Jahrhunderts. Und auf einen Schlag steht das «Wohl des Kindes über den wissenschaftlichen und kulturellen schutzwürdigen» Werten, wie die Staatsanwältin sagt? Diese Frage sollte nicht jene Frau, sondern die Gesellschaft zu beantworten versuchen. Und wir Germanisten müssten eine Antwort haben, weil zu viel auf dem Spiel steht: «Eine Geschichte, in der Jugendliche, die nicht richtig aufgeklärt sind und ständig über das Thema Sex fantasieren. Die Hauptperson, die ca. 14jährige Wendla, wurde schwanger. Mehrere Masturbationsszenen» (und nein, ich habe nicht falsch zitiert) — so «ermittelt», umschreibt und liest die Justiz Literatur. Das liegt, aus tausenden Gründen, einfach nicht drin. Das heisst aber auch, man muss begreiflich machen, was Literatur-Lesen bedeutet.
Viertens gibt es einen letzten Grund, den wichtigsten, ohne den ich diese Empfehlung bestimmt nicht schreiben würde. Dieses Buch schafft etwas, was ich noch nie zuvor gesehen habe. Hier schreibt einer, der aus haarsträubend konstruierten Vorwürfen aus Zürich vertrieben, von seinem Job ausgeschlossen, von der Justiz zermürbt wurde, die Dinge aus seiner Sicht. Solche Bücher gibt es immer mal wieder, und es muss sie geben. — Aber hier schreibt einer, der schreiben kann. Der die Auswirkungen genau und das Verfahren präzise wiedergibt, der in die Justiz eindringt: Protokolle, Hausdurchsuchungsbefehl, Urteilstexte druckt er im Original ab und analysiert sie. Er zeigt mit einer schmerzhaften Akribie, wo diese Texte Fehler übernehmen oder Sachverhalte konstruieren, gegen die sich einer, der nicht in dieser Sprache schreibt und nicht zum Kreis der Justiz gehört, nicht wehren kann — dass sein Name und der der Literaturwerke in allen Anklageschriften über Jahre hinweg falsch geschrieben steht, ist da noch der kleinste Mangel. Saladin betreibt Textanalyse, er zergliedert und deckt auf. Manchmal wäre das vielleicht gar nicht nötig, denn die Zitate sind so entsetzlich, dass sie für sich sprechen. Und nur schon diese Originalzitate aus dem Prozess lohnen die Lektüre — ganz egal, ob man Saladins Stil zu giftig findet oder nicht. Man braucht sich nur vor Augen zu führen, wie der Strafbestand auf dem Hausdurchungsbefehl hiess: «Pornografie etc.» — Diese Art von Unklarheit und Perfidie wird Seite für Seite getoppt durch noch Schlimmeres, das die Juristensprache und das Juristendenken zustandebringen. Verstehend, dass Sprache die Welt mitkonstruiert, beginnt Saladin, unakademisch und dezent, mit Subtexten (Novalis, den Songtexten von Archive) diese Sprache der Justiztexte zu unterlaufen. Vielleicht ist das eher ein hilfloser Versuch.
Wer das Buch durchblättert und es nicht liest, könnte meinen, es sei tatsächlich ein «Pamphlet», in dem ein Verbitterter seine Widersacher anschwärzen will: Man stolpert dann, wie Frau Hürlimann, über Wörter wie Jagd, Hetze, Überfall. Wer das Buch aber wirklich liest, sieht, dass er all diese Worte in einem ganz spezifischen Sinn benutzt, den er immer definiert. Er wettert ja nicht einmal gegen die Personen, nicht gegen die Mutter, die die Staatsanwaltschaft eingeschaltet hat. Er führt diese Begriffe lediglich als Erklärung dafür an, was mit ihm geschieht. Und es scheint mir verständlich, dass man nach solchen Erklärungen sucht. Er kämpft sich nicht vom Stigma los. Statt sich um jeden Preis vom Vorwurf der Pädophilie zu reinigen, hält er den Finger in die Wunde und zeigt, wo das wahre Problem liegt. Das braucht Mut. Und das macht dieses Buch zu viel mehr als nur Erlebnisbericht, aktualitätsbezogene Reportage oder Pamphlet. Aus einem Lesen des Prozesses entsteht so ein Buch über den Prozess des Lesens. Es unterwandert, vielleicht darf man sagen: dekonstruiert ihn. Wenn es nur einen besseren Titel hätte («Aktion S. — Eine Hetzjagd nimmt ihren Lauf»), hätte es Zeug und Recht dazu, weit über diese Zeit hinaus gelesen zu werden. Hoffentlich klappt es trotzdem.
Ja: Auch ich hatte meine Bedenken. Ich war nicht immer auf Saladins Seite. Auch ich habe in der Zeitung Widersprüchliches gelesen. Ich war erbost über die Verhaftung wegen Literaturunterricht. Doch mit der Zeit verwirrten sich die Medienberichte und meine Überzeugung kam ins Wanken. Einmal sprach man von Kinderpornografie, dann von Texten mit «Gewalt bis zum Tod» und vom Freispruch, gegen den Berufung eingelegt wurde, dann von Teilschuldspruch. (Saladin zeigt, wieviel an diesen Sachen dran ist: gar nichts; aber lest selbst.) Ich begriff, dass da etwas nicht stimmte, etwas musste ja stimmen, es gab ja ein Verfahren, aber ich glaubte fest daran, dass die Tageszeitungen unklar berichteten, kaum recherchierten und nicht zum Kern der Tatsachen durchdrangen und konnte mir kein Urteil, kein positives und kein negatives, anmassen.
Dieses Buch hat mich eines gelehrt: Ich lag falsch. Die Medien haben nicht verzerrt und nichts vernebelt — das hat schon die Justiz gemacht. Die Medien haben es nur abgebildet. Auch wenn man in diesem Fall zum Kern der Tatsachen durchgedrungen wäre, hätte man doch nie etwas in der Hand gehabt. Wie die Staatsanwaltschaft nichts gegen Saladin in der Hand gehabt hatte — und ihn trotzdem finanziell und sozial ruinieren konnte.
Hilft dieses Buch? Saladin wird es nicht helfen. Die Staatsanwältin, die zentrale Widersacherin, wird es nicht stören. Doch es hat wenigstens mir die Augen für einiges geöffnet. Und vielleicht auch meine Haltung geändert. Dank diesem Buch werde ich nicht mehr ängstlich zurückkrebsen, wenn ein ungerechtfertigt Angeklagter irgendwo, in einem Teilpunkt, verurteilt wird oder in einem zerfledderten Verfahren schmort. Ich werde nicht mehr denken, die Justiz müsse Opfer auf sich nehmen, um zu funktionieren. Ich werde nie mehr glauben, dass die Schweizer Justiz schon genug richtig mache, nur weil wir in der Schweiz, 2014, leben. Stattdessen werde ich dieses Buch zur Hand nehmen und mich fragen wieso wir so feige sind, wie wir Wedekind schützen können und was genau wir eigentlich für ein Problem mit Sexualität und Pädophilie haben. Und ich wünschte mir, jeder würde sich diese Frage stellen — oder zumindest das Buch wirklich lesen.
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