Diese Stadt scheint, als ob man die neurologischen Prozesse gekühlt hätte, um sich dem entropischen Zustand anzunähern. Es ist, als ob eine kaum bekannte, aber nicht durchwegs unbedeutende Instanz beschlossen hätte, dass das Verbrauchen wertvoller Lebensgeister durch das Denken ein ineffzienter Vorgang ist. Tatsächlich ist der energetische Verschleiss nicht zu leugnen, der sich nur schon beim Wechseln verschiedener Gedankengänge ergibt, und dieses Wechseln ist bei den einströmenden Sinneseindrücken eines normalen Lebens kaum abzuwehren, schliesslich gilt es mal in die, mal in die andere Richtung zu assoziieren. Die naheliegende Lösung ist also, die neurologischen Prozesse zu verlangsamen und sich selbst gewissermassen mental-integrierte Scheuklappen anzulegen, die die meisten neurologischen Prozesse unterbinden und sie nur auf jene beschränken, die zum Ausführen einer bestimmten Tätigkeit wirklich benutzt werden. Selbst wenn solche Menschen klagten, die immer klagen: Man dürfe nicht alles der Effizienz unterordnen. Kreativität sei dadurch gefährdet und so weiter. So sind das doch eigentlich unvernünftige Einwände im Hinblick auf die Tatsache, dass Effizienz nicht ein moralischer, sondern ein rein ästhetischer Wert ist, der — wie die Schönheit der Kunst — im Namen des Moralischen funktionieren oder ihm auch das Handwerk legen kann, sowie im Hinblick auf die Überflüssigkeit von Kreativität eines Originalgenies: Echte Kreativität entsteht nicht durch die Engführung der beiden Hälften in einem Gehirn, es ist die Verknüpfung hunderter Gehirnhälften, weshalb eine Kettengeschichte in jedem Fall kreativer ist, als ein von einem irren Kopf geschmiedetes Opus Magnum, das nur zum hohen Preis von zerstörter Ordnung und Energie entsteht und im Endeffekt meistens nur weiter gedankliche Unordnung stiftet.
Hat man die Übermacht dieser Argumente erst einmal verstanden, begrüsst man auch die Bemühungen zur Entschleunigung der Denkvorgänge, solange unwichtige Tätigkeiten vonstatten gehen: Es ist wirklich nicht nötig, Sprech-, Sex- oder Rechenareale zu aktivieren, wenn ein Schüler in der Geschichtsstunde sitzt. Es ist ihm natürlich keineswegs verboten, darauf zu beharren, aber vernünftige Überlegung und Ekel vor der Verschwendung werden auch ihn zu dem Bewusstsein geleiten, dass sich das Leben bequemer gestalten lässt, wenn er abends zum Spielen mehr Kräfte zur Verfügung hat. Das entschleunigte Denken — oder auch Scheuklappendenken — in der Gesellschaft, scheint auf den ersten Blick widersinnig: Es ist zumindest nicht logisch, dadurch Effizienz zu zeitigen, dass Denkvorgänge gelähmt werden, schliesslich müssen im Verlaufe des Tages immerzu Entscheidungen getroffen, Pläne geschmiedet, Abläufe vorbereitet werden.
Dieses Element der neurologischen Kapazität ist selbstverständlich unabdingbar. Durch eine besondere Spaltung der Aufgabenbereiche lassen sich aber auch diese Forderungen erfüllen, ohne dass das Gehirn der Ablenkung und dem Denkverschleiss verfällt. Gegen zwei Uhr in der Nacht, während die Bürger an die Entschleuniger angeschlossen sind, bietet sich ihnen ein ausgiebiger Zeitraum, indem ein jeder die Möglichkeit wahrnimmt, den Tagesablauf von morgen zu planen. Während diesen maximal zwei Stunden — in der Regel reichen zehn Minuten — schreibt der Betreffende den Denkplan in sein Buch, der unwiderruflich ausgeführt wird. Es ist wichtig, dieses Buch sorgfältig und gewissenhaft auszufüllen, im Gegenzug lässt sich dadurch die Lebensqualität ungemein steigern: Wenn man will, steht man morgens um sechs auf, um mit dem Frühsport zu beginnen, kocht sich ein gesundes Frühstück, setzt sich pünktlich zur Arbeit, denkt auf dem Weg an seinen Geliebten — natürlich nur, wenn dies so geschrieben wurde — und arbeitet pflichterfüllt und konzentriert, damit man sich abends ein Bad einlassen und nach der Lieblingsserie zu Bett gehen kann. Sagenhafterweise lassen sich so alle Vorsätze erfüllen und es widerfährt einem nie wieder die kleinste Verführung oder Entgleisung, die einen aus der Bahn wirft. Alle Lebensträume können dadurch besser erfüllt werden, weil sich keine Widerstände bilden, die nicht aus dem Weg geräumt werden können.
In dieser Stadt scheint es deshalb oft so, als ob Zombies unterwegs wären, die nichts denken und nur zur Arbeit fahren, in Wirklichkeit aber sind es die ambitioniertesten, ehrgeizigsten und durchtriebensten Köpfe, die sich ihre Energie für ganz klar festgelegte Zeiten aufsparen, in denen sie ihre Gedanken kanalisieren können.
Was in vielen Fällen dennoch zu Missbilligung führt, ist die unbefriedigende Ausführung des Gesellschaftslebens, an der weiterhin umtriebig geforscht wird. Während sich gezeigt hat, dass die gesellschaftlichen Kontakte automatisch und mit voller Zustimmung der Beteiligten zurückgegangen waren, als man einander nicht mehr am Arbeitsplatz ablenken konnte oder auf der Strasse belästigt wurde, erhebt sich von Zeit zu Zeit dennoch Unmut über die Schwierigkeit, sich zu bereichernden Gesprächen niederzusetzen. Klagen solcher Art kommen gerüchteweise vor allem von Frauen, es ist aber Fakt, nur gesellschaftlich verschwiegener, dass sich die Männer ebenso über den Mangel an sexuellen Kontakten ereifern. Beschämt nehmen sie wahr — können es aber nicht verhindern —, wie sie nackt mit der Matratze kopulieren, während ihre Frau den Plan geändert hat, weil sie noch Überstunden machen musste oder lieber ins Spa ging. Derlei Situationen sind für die Betroffenen manchmal traumatisch, es ist allerdings nur eine Sache der ausgewogenen Planung und des partnerschaftlichen Austauschs, mit der man sich ohnehin anfreunden sollte. Der Verkehr, also auch der nichtgeschlechtliche, wurde demgemäss entschleunigt, um das Gefahrenpotential einzudämmen. Stau herrscht zur grösseren Sicherheit auf den Strassen, damit alle in ihr Heft schreiben können: Fahren, wenn vorne gefahren wird. Es ist selbstverständlich, dass zur Bildung solcher Staus die Stadt keinen Aufwand scheut, um schon am Morgen eigene Bremswagen einzusetzen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Gefahr durch Amokläufe und andere Greueltaten, weil alle Menschen ungeschützt in den Zügen sitzen und sich selbst dann nicht regen würden, wenn jemand mit einer Pistole auf ihren Kopf zielt. Das ist ärgerlich, und deshalb ist für die Bürger ein gelegentlicher Bruch in der Routine empfehlenswert — Gehen Sie zu Fuss! Nehmen Sie den Stau! —, um einem allfälligen Verfolger Finten zu schlagen und unvorhersehbar zu bleiben.
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