Der Billionär

All diese Bücher. All diese Bücher muss ich scannen. Und das Format wählen, die benutzerdefinierte Vorlage, nicht etwa A4, die meisten Bücher sind grösser. Und dann scannen. Nächste Vorlage. Auf der linken Seite des Scanners schichten sie sich auf und wenn ich damit fertig bin, lege ich sie auf der rechten Seite ab. Wenn ich das Buch hineinlege und auf die Massbänder richten will, muss ich darauf achten, dass mir der Schaft der Pistole nicht gegen die Schläfen stösst. Das ist mir schon drei, vier Mal passiert und es ist wirklich unangenehm, nicht nur für mich, sondern auch für den anderen, der dann einen Schritt zurücktritt und erst nach einigen Minuten wieder näher kommt, um die Pistole an meine Schläfe zu halten. Er sorgt dafür, dass ich scanne. All diese Bücher scanne. Er hat sich mir nicht vorgestellt, mir nie etwas gesagt, ausser, dass ich scannen soll, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob er meine Sprache spricht. Die einzige Kommunikation zwischen uns läuft über all die Bücher, die ich scannen muss. Manchmal bringt sie ihm ein anderer und er übergibt sie mir wortlos. Scheerbart Lesabéndio. H. C. Artmann: Frühprosa. Charlotte Roche — Schossgebete. Einmal hielt ich die Vierte Auflage der Erstausgabe »Werthers« in der Hand und weigerte mich, das alte Buch auf die Fläche zu pressen, um es einzuscannen. Die Antwort war ein Schlag auf meinen Hinterkopf und so musste halt der alte Werther leiden.
Ich habe bei der Arbeit viel Zeit zum Nachdenken und kann über die Gründe des ganzen Vorgehens grübeln. Ich habe mich gefragt, ob man mir Mitteilung machen will, indem man mir diese Bücher gab. Ob zum Beispiel in den Titeln, die ich scanne, ein Muster zu finden ist, irgendein Code. Aber das ergibt schon deshalb keinen Sinn, weil ich von der ersten bis zur letzten Seite alles einlesen muss. Einfacher scheint mir dann die Frage, weshalb man sich die Mühe machte, all das scannen zu lassen.
Es gibt im Grunde zwei Möglichkeiten, die mir nicht beide gleich wahrscheinlich scheinen. Entweder es existiert ein militaristischer, vielleicht paramilitärischer Verein, der die Digitalisierung des Buches auf gewaltsamem Wege fordert. Nur wie sollte sich der finanzieren? Weshalb nur Bücher und nicht etwa alte Bilder? Weshalb Bücher scannen, die bereits digitalisiert sind? Viel wahrscheinlicher scheint mir deshalb doch der Billionär.
Es ist nämlich anzunehmen, dass es einen kriminellen Billionär gibt, der — als er, wie ich, noch arm und für solche Arbeiten zuständig war — im Scannen von Büchern das Geheimnis erkannt hat: Den Ersatz fürs Lesen. Erst war er Literaturprofessor geworden, weil er seiner Konkurrenz weit voraus war: Statt die Bücher alle zu lesen, über die er Vorlesungen hielt, scannte er sie ein. So ersetzte er das Lesen und der Scanner übernahm es für ihn. Billionär wurde er, weil er begriff, dass er, statt sie selbst zu scannen, die Arbeit jemandem übertragen könnte, für den der Scanner las — und schliesslich entschloss er sich dazu, dass er ebensogut für sich auch andere Professoren über die Bücher plaudern lassen konnte, die sie wiederum von ihren Assistenten einscannen liessen. So ging die Kette weiter. Der Billionär besitzt mittlerweile etwa vierundzwanzig Kapitalisten, die — in seinem Auftrag — ihr Geld für sich arbeiten lassen, dieses Geld ist in HedgeFonds angelegt, die wiederum andere Anleger finanzieren, die dann irgendwann Firmen für sich arbeiten lassen, so dass, ganz am Ende von Unis, Firmen und Produktionsketten, ich stehe, der die Bücher für ihn einliest— und der Scanner, der sie wirklich liest —, wir also, die ihn zum Billionär machen. Es versteht sich von selbst, dass er, wenn er verstanden hat, dass seine ganze Existenz nur von mir abhängig ist, indem ich ihm Bücher zufüttere, dafür sorgen muss, dass ich nicht aufhöre. Deshalb der mit der Pistole.
Was er dabei vergessen hat: Ich habe soviele Bücher gescannt, dass ich fast so klug bin wie er. Weil ich die Bücher selbst scanne, erleidet der Eindruck, den ich dabei empfange, nur unmerkliche Verzerrungen, die sich weit gegen oben, bis zum Billionär, verstärken. Deshalb ist es zu rechtfertigen, dass ich mehrmals die gleichen Bücher einscanne, weil sie beim ersten Mal für den Billionär nicht deutlich genug gelesen sind. Ich nutze diese Schwäche für mich aus, scanne besonders aufmerksam und achte darauf, dass ich die Bücher, die mir bekannt sind, manipuliere. Ich bin mir zum Beispiel ziemlich sicher, dass dem Billionär zwar der Erec, aber nicht die Szene von Enites Pferd, zwar Der Process, aber nicht Josef K.s Gespräch mit dem Dom-Prediger bekannt ist. Dadurch erreiche ich kleine Vorsprünge, die ich zu meinem Vorteil zu nutzen gedenke. Wenn die Zeit reif ist, werde ich hier hinausspazieren. Ich werde den Billionär mit vorgehaltener Pistole für mich Billionär-Sein lassen, um für mich reich zu sein. Ein anderer wird meinen jetztigen Job machen, die Bücher scannen. All diese Bücher.

3 Antworten zu „Der Billionär”.

  1. Wow, wundervoll kryptisch!
    Und eine schöne Art zu erzählen – Gefällt mir sehr gut.

    1. Vielen Dank für deinen Kommentar! Es freut mich, dass es dir gefallen hat. Zum Glück ist das Leben — besonders ein Scanner — für sich genommen kryptisch genug, dass es zu solchen Geschichten nur noch ein kleiner Schritt ist 😉

  2. […] mit Kameras, um es nicht zu sehen, geschweige denn später anzuschauen, und in einem jüngeren Text von mir, habe ich ein ähnliches Bild verwendet, um aus dem Scannen eines Buches ein Lesen zu machen — […]

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